Das Märchen vom „psychologisch ungünstigsten Zeitpunkt“

Irgendwann hat sich wahrscheinlich einmal ein Trainer oder ein Spieler überlegt, dass es günstige und weniger günstige Momente gibt, um ein Gegentor zu bekommen. Jedenfalls hat sich daraus eine Floskel entwickelt, die bereitwillig von jedem Kommentator und Trainer verwendet wird. Wenn ein Tor vor der Halbzeit fällt, ist das immer ein „psychologisch ungünstiger Zeitpunkt“. Wenn ein Gegentor kurz nach einem Führungs- oder Ausgleichstor fällt, ist das selbstverständlich auch „psychologisch ungünstig“. Und besonders unangenehm wird es, wenn das Tor kurz vor dem Spiel Ende fällt. Die maximale psychologischen Ungünstigkeit wird nämlich erreicht, wenn Sie und Ihre Mannschaft ein Spiel zu verlieren.

Ganz offensichtlich sind Gegentore in den seltensten Fällen günstig. Es gibt aber durchaus Gegentore, die keine wesentliche Rolle für den Spielverlauf darstellen. Wenn Ihre Mannschaft beispielsweise mit 5 Toren in Führung liegt, dann ist es kein großes Problem, wenn der Gegner kur vor Schluss noch einen Ehrentreffer erzielt. Ansonsten sind aber alle Tore, die unmittelbar oder potenziell Einfluss auf die Spielwertung haben, grundsätzlich und immer ungünstig. Jedenfalls hat noch nie ein Kommentator oder Trainer behauptet, dass ein Gegentreffer zum Ausgleich genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen sei. Schließlich sei das genau der taktische Plan gewesen!

Ein Gegentor zum Ende der ersten Hälfte hat viele Vorteile

Man muss alle Dinge positiv sehen und auch bei Gegentoren gibt es durchaus Faktoren, die manchmal eine positive Betrachtungsweise erlauben. Wenn Ihre Mannschaft beispielsweise ein Gegentor direkt vor der Halbzeit bekommt, ist das sicher ärgerlich. Aber sie haben auch noch eine weitere Halbzeit, um den Schaden zumindest zu begrenzen. Die Zeit ist schon knapper, wenn Sie das Gegentor zu Beginn der zweiten Hälfte bekommen. Das ist dann auch „psychologisch ungünstig“, aber Sie haben weniger Zeit, um den Schaden, der durch das Gegentor entstanden ist, zu beheben oder zu begrenzen.

Ein später Anschlusstreffer hat auch positive Seiten

Wenn Ihre Mannschaft die ganze Zeit mit 2 Toren geführt hat, ist es nicht schön, wenn der Gegner wenige Minuten vor dem Abpfiff den Anschlusstreffer macht. Aber die kurze Zeit, die dem Gegner noch bleibt, ist durchaus angenehm für Sie. Wenn also unbedingt ein Anschlusstreffer fallen soll, dann doch möglichst zu einem Zeitpunkt, der den Gegner nicht mehr viel Spielraum lässt, um den Ausgleich zu erzielen. Ein früher Anschlusstreffer eröffnet dem Gegner ganz andere Möglichkeiten, auch wenn der Zeitpunkt überhaupt nicht „psychologisch ungünstig“ war. Aber im Fußball geht es eben auch nicht immer nur um Fakten, sondern auch um tradierte Fußball-Wahrheiten.

Auf Gegentore nüchtern reagieren

Gegentore sind ein fester Bestandteil des Fußballspiels. Auch mit der besten Mannschaft wird es Ihnen nicht gelingen, eine ganze Saison ohne Gegentor zu bleiben. Und auch in Ihren besten Jahren werden Sie das eine oder andere Gegentor zu einem „psychologisch ungünstigen“ Zeitpunkt bekommen. Die Frage ist nur, wie Sie damit umgehen. „Psychologisch ungünstig“ wird in der Praxis nämlich oft verwendet, um ein schlechtes Spielergebnis zu rechtfertigen. Man könnte auch einfach sagen: „Wir haben Pech gehabt!“ oder: „Wir waren zu blöd!“ Aber das klingt natürlich nicht so gut wie: „Wir haben zu einem psychologisch ungünstigen Zeitpunkt den Anschlusstreffer bekommen“.

Das Resultat solcher Aussagen ist, dass die Spieler ein schönes Alibi geliefert bekommen. Und jeder Spieler, ganz unabhängig von der Spielklasse, freut sich immer, wenn ein Trainer ihm ein Alibi liefert. Wenn Sie das Gerede vom „psychologisch ungünstigen Zeitpunkt“ vergessen und sich stattdessen ganz konkret um die Fehler, die zum Gegentor geführt haben, kümmern, hilft das Ihren Spielern deutlich mehr. Der Zeitpunkt ist nämlich bei einem Gegentor ein untergeordneter Faktor. Viel wichtiger ist doch die Frage, warum es überhaupt zu einem Gegentor kommen konnte. Auf den Zeitpunkt haben Sie ohnehin nur sehr geringen Einfluss, aber Sie können durch gutes Training und eine solide taktische Ausbildung viele Gegentore schon vom Grundsatz her vermeiden.