Taktisches Foul? Die Rolle des taktischen Fouls in Spiel und Training

Taktisches Foul: WM 2002. Seoul. Halbfinale. Deutschland gegen Südkorea. Der Mitgastgeber, der das Turnier gemeinsam mit Japan veranstaltet, schwebt auf einer Erfolgswelle, wird von den eigenen Fans nach vorn gepusht und hat schon mit dem Erreichen der besten Vier der Welt den größten Erfolg seiner Fußballgeschichte gelandet. Auf der anderen Seite ist die große Fußballnation Deutschland eigentlich in einer Krise, ihr Einzug ins Halbfinale ebenfalls eine Überraschung, die vor allem zwei Namen trägt. Torhüter Oliver Kahn befindet sich in der Form seines Lebens, bringt seine Gegner reihenweise zur Verzweiflung und hält im Achtelfinale gegen Paraguay und im Viertelfinale gegen die USA fast im Alleingang die Null.

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Der zweite Star ist Michael Ballack, der gerade mit Bayer Leverkusen Vizemeister, Vize-Pokalsieger und Vize-Champions-League-Sieger geworden war und endlich einen großen Titel gewinnen will. Er führt die Mannschaft mit unglaublicher Präsenz und erzielt die wichtigen Tore, darunter im Viertelfinale den goldenen Treffer gegen die US-Boys. Im Halbfinale läuft nun die 70. Minute, es sind noch keine Tore gefallen und das Spiel steht auf des Messers Schneide. Südkorea greift über links an, Chun Soo Lee führt den Ball und kommt dem deutschen Strafraum gefährlich nahe. Als auch Carsten Ramelow überspielt ist, stehen vier Südkoreaner gegen nur noch zwei Deutsche an der Strafraumkante. Der von hinten anrauschende Michael Ballack erkennt die Gefahr und greift zum letzten Mittel. Mit einer harmlosen, aber doch effektiven Grätsche bringt er Lee zu Fall und nimmt den Asiaten die unmittelbare, hundertprozentige Torchance.

Ballack sieht Gelb, die zweite im K.O.-Modus, was bedeutet, dass er im (bis dato noch nicht sicheren) Endspiel gegen Brasilien fehlen wird. Nicht nur mit dieser Aktion wird der Kapitän zum entscheidenden Mann der Partie, nur wenige Minuten später trifft er auf der Gegenseite zum einzigen Tor des Tages. Ballack opfert sich selbst, um Deutschland ins Finale zu bringen. Ein Finale, in dem er als Zuschauer mit ansehen muss, wie Oliver Kahn den ersten Fehler seines Turniers begeht und Brasilien letztlich schmucklos 2:0 gewinnt und Weltmeister wird.

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Ballack wird als tragischer Held verehrt

Michael Ballack wird zum tragischen Helden von Seoul. Sein taktisches Foul geht in die Geschichte ein. Die FIFA ändert gar ihre Regeln, um Sperren wegen gelber Karten in Endspielen zu verhindern. Für Ballack kommt das zu spät, doch die Kommentatoren sind sich einig: Ballack hat Großes geleistet! Ein Spieler wird gefeiert für ein Foul, das nötig war, um einen Gegentreffer zu verhindern, der Deutschland möglicherweise aus dem Turnier geworfen hätte. Seine Mannschaftsdienlichkeit ist bis heute ein Paradebeispiel dafür, dass das taktische Foul zum Teamsport Fußball dazugehört.
Oft mag es einen negativen Ruf haben und bei Fans verpönt sein, doch wer das Halbfinale von Seoul erlebt, weiß, welche Rolle es im Fußball einnehmen kann. Das taktische Foul ist eine Möglichkeit, einen gegnerischen Angriff abzubrechen, wenn man keine Chance mehr sieht, dies mit fußballerischen Mitteln zu schaffen. Vielleicht ist es vergleichbar mit der Umklammerung des Gegners beim Boxen, mit dem man in einer starken Phase des Kontrahenten weitere Einschläge verhindern möchte. Regelkonform wird ein solcher Verstoß ob seines durchaus spielentscheidenden Charakters mit einer gelben Karte verwarnt, so tragisch diese auch sein mag.
Taktisches Foul

Gibt es noch taktische Fouls im modernen Fußball?

Der moderne Fußball hat die Bedeutung des Duells Mann gegen Mann verringert. Folgten in den 1990er Jahren noch Verteidiger ihren fest zugeteilten Gegenspielern und trugen die Verantwortung, wenn diese zum Torerfolg kamen, wird heute im Raum verteidigt, werden Gegenspieler übergeben. Tendenziell geht damit auch die Anzahl der Foulspiele zurück. Moderne Trainer verlangen von ihren Spielern, Situationen ohne Foul zu lösen, weil Freistöße für den Gegner immer eine verhältnismäßig gute Möglichkeit sind, ein Tor zu erzielen. Auch taktische Fouls sind immer ein Ausdruck von Schwäche, weil sie dann zum Einsatz kommen, wenn man mit normalen Mitteln keine Lösung mehr findet. Trotzdem erfüllen sie einen strategischen Zweck und sind deshalb immer ein Mittel, das auch und gerade im modernen Fußball seine Berechtigung hat.

Hohes Pressing birgt hohes Risiko

Moderne Fußballmannschaften versuchen heute oft, Bälle schon tief in der gegnerischen Hälfte zu gewinnen und so einen kurzen Weg zum Tor vorzufinden, um binnen weniger Sekunden zum Abschluss kommen zu können. Dabei müssen die ballführenden Spieler früh angelaufen und unter Druck gesetzt, dazu Anspielstationen zugestellt werden. Nicht selten sind sechs oder sieben Spieler direkt an diesem Prozess beteiligt. Verläuft das Pressing trotzdem einmal ins Leere, kann der Gegner entsprechend auch schnell sechs oder sieben Spieler hinter sich lassen. Die dann möglicherweise entstehende Gefahr für das eigene Tor kann oftmals nur noch mit einem taktischen Foul vermieden werden, das zu einer Spielunterbrechung führt und der ganzen Mannschaft die Möglichkeit verschafft, sich in der Grundformation zu positionieren und gut geordnet zu verteidigen.

Taktische Fouls gegen gefährliche Konter

Schnelle Tempogegenstöße sind im heutigen Fußball eine der besten Möglichkeiten, zum Torerfolg zu kommen. Wenn man den Ball gewinnt, findet man oft einen unsortierten Gegner vor. Es bleibt eine kurze Zeitspanne, ihn mit einem schnellen Konter zu überrumpeln, bis er sich wieder in seiner Ordnung eingefunden hat. Um einen solchen Konter schon im Ansatz zu unterbinden, eignet sich das taktische Foul nach wie vor sehr gut und wird häufig genutzt. Allerdings verfügen längst auch Schiedsrichter über ausreichend taktisches Verständnis, um zu erkennen, wann mit einem Foul ein potentiell gefährlicher Angriff unterbunden wird. Fast jede dieser Aktionen wird mittlerweile mit einer gelben Karte geahndet. Vor allem Mittelfeldspieler, die besonders oft in Versuchung geraten, taktisch am Trikot zu ziehen, müssen sehr gut abwägen können, ob die Situation tatsächlich derart gefährlich ist, dass sie eine gelbe Karte rechtfertigt.

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Taktisches Foul als Teamleistung

Prinzipiell ist ein taktisches Foul immer ein Zeichen von Schwäche, weil es dazu dient, einen Fehler auszubügeln und glimpflich aus einer gefährlichen Situation herauszukommen. Wenn es aber doch nötig ist, sollte es möglichst mannschaftsdienlich sein. Ein „gutes“ taktisches Foul erfolgt weit weg vom eigenen Strafraum in einem Bereich, in dem ein Freistoß relativ ungefährlich ist. Um schon dort zu erkennen, dass eine Situation gefährlich wird, braucht es die verbale Kommunikation der Spieler untereinander. Ein Abwehrspieler, der eine nicht zu verteidigende Lawine an Gegenspielern auf sich zukommen sieht, kann seinen Mittelfeldspieler mit einem kurzen Kommando anweisen, das Spiel mit einem Foul zu unterbrechen. „Hau ihn um“ ist dabei nicht die richtige Wortwahl, vielmehr sollten Codewörter vereinbart werden, die in solchen Momenten angewendet werden.

Ich muss meinen Gegner nicht kaputttreten

Das taktische Foul hat allein die Funktion, den gegnerischen Spielfluss zu unterbrechen. Das geschieht am besten still und leise und nicht mit einer brutalen Grätsche, für die ein Schiedsrichter nicht nur die obligatorische gelbe, sondern möglicherweise gar die rote Karte zückt. Die beste Möglichkeit ist das Halten des Gegenspielers am Trikot. Oft reicht auch eine Hand auf der Schulter des Kontrahenten, um diesen aus dem Rhythmus zu bringen.

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Trainer müssen Fouls bewerten

Im Juniorenbereich steht das taktische Foul natürlich nicht im Vordergrund. Die Nachwuchsspieler haben genug andere Aufgaben, die sie verinnerlichen müssen. Wenn man als Trainer das taktische Foul als Notfallmaßnahme erlaubt, sollte man anschließend auch ganz genau bewerten, wie diese Möglichkeit genutzt wurde. Ein absolutes No-Go ist das unnötig brutale Einsteigen, welches den Zweck deutlich verfehlt und im schlimmsten Fall sogar den Gegenspieler verletzt. Genauso sind Fouls energisch zu kritisieren, die unnötig waren, weil die Situation auch andere, bessere taktische Möglichkeiten geboten hätte, um ein Gegentor zu verhindern. Dann gilt es, diese Möglichkeiten zu analysieren und die Spieler taktisch weiterzuentwickeln.

Sollen Kinder taktisch foulen?

Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob schon im Kindesalter zum Mittel des taktischen Fouls gegriffen werden sollte. Einerseits kann das geschickte Einsetzen eines kleinen Trikotzupfers über Sieg oder Niederlage entscheiden, andererseits sollen Kinder zum Einhalten von Regeln und dem fairen Umgang miteinander erzogen werden. Deshalb sollten Kinder niemals zum brutalen Foul erzogen werden, im Kleinfeldbereich ist auch eine Anweisung taktischer Fouls in der Regel übertrieben. Vor allem dann, wenn es in den leistungssportlichen Bereich geht, gehört die Beherrschung des taktischen Fouls aber genauso zum Fußball wie der Körperkontakt beim Kopfballduell. Auch dort versuchen Verteidiger, ihren Gegner beim Springen zu behindern, damit er nicht kontrolliert köpfen kann, statt selbst den Ball zu bekommen.
Profimannschaften studieren Eckballvarianten ein, bei denen Spieler die explizite Aufgabe haben, Verteidiger zu blocken, damit diese ihren Gegenspielern nicht folgen können. Wo liegt die Grenze zwischen cleverer Siegermentalität und sportlicher Fairness? Vielleicht dort, wo Täuschung und Betrug ins Spiel kommen. Spieler, die Elfmeter oder Freistöße schinden wollen und deshalb zur Schwalbe ansetzen, widersetzen sich deutlich dem Fairnessgedanken und sollten schon im Nachwuchs vom eigenen Trainer zur Rechenschaft gezogen werden. Das taktische Foul hingegen ist eine Art Joker, den ein Fußballer einmal im Spiel ziehen kann, wenn es keine andere Lösung mehr gibt. Keine Diskussion darf es dann aber über die folgende gelbe Karte geben, im Nachwuchsbereich über die Zeitstrafe. Wer zum taktischen Foul greifen muss, weil er eine Torchance anders nicht verhindern kann, der muss dafür die Konsequenzen tragen!

Taktisch foulen ja, aber intelligent!

Ein Foulspiel darf nur dann als taktisches Mittel zur Anwendung kommen, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt. Wenn es aber einmal nötig ist, um ein drohendes Gegentor zu verhindern, sollte es auch professionell genutzt werden. Deshalb ist es absolut legitim, über derartige Situationen mit der Mannschaft zu sprechen. Es können Signalwörter festgelegt werden, mit denen man taktische Fouls anordnet. Das Kommando kann dabei sowohl vom Trainer als auch – deutlich besser – von den Spielern ausgehen.
Ein explizites Training von Foulspielen ist nicht nötig, vor allem im Jugendfußball wäre es töricht, wertvolle Übungszeit zum Einstudieren von Fouls zu nutzen statt für die Verbesserung fußballerischer Qualitäten, schließlich muss man immer versuchen, Situationen mit legalen Mitteln zu lösen. Vielmehr sollte in Mannschaftssitzungen das taktische Verhalten der Spieler auch dahingehend geschult werden, zu erkennen, wann ein taktisches Foul notwendig ist. Genauso ist es wichtig, dass möglichst die Spieler zum taktischen Foul greifen, die noch nicht mit einer gelben Karte verwarnt sind. Gerade wenn zwei Spieler die Möglichkeit dazu haben, von denen nur einer nicht verwarnt ist, sollte dieser das eigenständig erkennen und die Verantwortung übernehmen. Keinesfalls sollte dieses Mittel inflationär genutzt werden, weshalb die Spieler erkennen müssen, wann es sich wirklich um einen Notfall handelt. Dann allerdings ist ein taktisches Foul eine legitime Variante, die auch als solche dargestellt werden kann.

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Checkliste zum taktischen Foul im Fußball:

  • Das taktische Foul ist nur dann eine Option, wenn es keine andere Lösung mehr gibt.
  • Ein taktisches Foul ist dann richtig, wenn andernfalls eine gegnerische Großchance unvermeidbar wird und das Foul harmlos ist, also keine Verletzung des Gegenspielers riskiert.
  • Um das Mittel des taktischen Fouls sinnvoll zu nutzen, brauchen Spieler ein gutes taktisches Verständnis, um passende Situationen zu erkennen und nicht unnötig zu foulen, aber auch kein Gegentor zuzulassen, weil ein mögliches taktisches Foul unterlassen wird.
  • Nicht immer kann der Spieler, der die Möglichkeit hat, das Spiel mit einem Foul zu unterbrechen, die Notwendigkeit richtig einschätzen. Andere Spieler müssen ihm dann mit fest vereinbarten Kommandos wie „Clever spielen!“ oder „Du musst!“ helfen.
  • Der Trainer muss seiner Mannschaft das Gefühl vermitteln, dass das taktische Foul möglichst vermieden werden soll, im Notfall aber eine legitime Möglichkeit ist, einen Fehler auszubügeln.
  • Taktische Fouls sind legitim, aber nicht legal! Schiedsrichter müssen deshalb Konsequenzen wie gelbe Karte oder Zeitstrafe nutzen. Nur so lernen junge Fußballer, das Mittel des taktischen Fouls clever und sinnvoll einzusetzen.

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Bildquelle:
flucas / www.fotolia.de