Die Statik stimmt nicht bei Oranje

Nicht wenige Beobachter meinen, dass mindestens einer der beiden Finalisten bei der EM aus der deutschen Gruppe B kommen wird. Doch ist diese Gruppe wirklich so stark? Wie sind Portugal, Dänemark und die Niederlande drauf? Der Versuch, die deutsche Gruppe zu beleuchten, mit Schwerpunkt auf „Oranje“.

Dänemark hat sein letztes Testspiel mit Müh‘ und Not mit 2:0 gegen Australien gewonnen, die Portugiesen waren der Türkei zuhause mit 1:3 unterlegen. Sagt das etwas aus über den Zustand der Mannschaften? Immerhin war Deutschland auch nur mit einem behäbigen 2:0 über Israel erfolgreich gewesen. Doch wer sich die Kreativabteilung der Dänen und vor allem die Innenverteidigung der Portugiesen näher angeschaut hat, muss zu dem Schluss kommen, dass diese beiden Teams wohl nur um die Goldene Ananas mitspielen werden in der Gruppe B. Zu uninspiriert die Dänen, zu chaotisch die Portugiesen, die trotz drückender Überlegenheit vorn einmal mehr nicht viel zustande brachten. Und dann hat Ronaldo auch noch einen Elfmeter verschossen. Man tritt wohl keinem der beiden Teams zu nahe, wenn man behauptet, dass Niederländer und Deutsche selbst dann, wenn sie nicht in Bestform sind, die Portugiesen und Dänen beherrschen und besiegen dürften.

In welcher Form aber sind die Holländer? Zwei von drei Testspielen wurden gewonnen (2:0 gegen die Slowakei, 6:0 gegen Nordirland), das Spiel gegen Bulgarien ging mit 1:2 in die Binsen. Aus einer anfänglich verunsicherten Truppe ist eine Mannschaft geworden, die Spaß am Spiel hat, allerdings lang nicht mehr in jenem Maß, das der Elftal den früheren Ruf eingebracht hat, lieber in Schönheit zu sterben als einen Titel zu gewinnen. Dafür hat das Team in Oranje eine beeindruckende Effizienz entwickelt. Bert van Marwijk, der Bondscoach, kann es sich erlauben, Top-Spieler wie Klaas Jan Huntelaar und Rafael van der Vaart auf die Bank zu setzen, weil er mit Wesley Sneijder, Arjen Robben, Robin van Persie und Ibrahim Affelay mehrere hoch talentierte Offensivkräfte zur Verfügung hat. Auch Stürmer Dirk Kuyt kommt derzeit nur sporadisch zum Einsatz.

Stets nur mit einer Spitze

Das alles soll, wie zu hören ist, für atmosphärische Spannungen innerhalb des Teams sorgen, doch auf dem Platz war in der Vorbereitung davon nichts zu bemerken. Zudem scheint genügend Sinn für die Realität im Team zu herrschen – nach den sechs Toren gegen Nordirland sagte Kapitän Mark van Bommel, man dürfe das Resultat keinesfalls überbewerten. Andererseits sei es „immer gut, wenn man so gewinnt und den Zuschauern etwas bietet“. Dass keiner abhebt, ist vermutlich aber auch dem Umstand geschuldet, dass man genau um die taktische Schwachstelle im Team weiß. Und die liegt, wie so oft bei Holland, auch dieses Mal wieder links hinten in der Viererkette, wo zuletzt Jetro Willems sein erst zweites Länderspiel bestritten hat; sein Debut gab er beim 1:2 gegen Bulgarien. Im Spiel gegen die Slowaken setzte van Marwijk auf Stijn Schaars von Sporting Lissabon, der eigentlich im Mittelfeld zuhause ist.

Dabei ist klar, dass eine solche Schwäche, wie sie tatsächlich hinten links herrscht, Auswirkungen auf die gesamte Statik des Spiels hat. Es könnte etwa dazu führen, dass die beiden Sechser, van Bommel und Nigel de Jong, dadurch deutlich defensiver agieren müssen, was noch nicht einmal das Schlimmste wäre. Denn der schlimmste Fall würde dann eintreten, müsste Affelay seine zumeist brillanten Vorstöße auf links zügeln, um den Kollegen hinter ihm im Falle eines Ballverlusts nicht unnötig in die Bredouille zu bringen. Doch betrachtet man andererseits die individuellen Stärken der oben genannten Offensivspieler, erscheinen die Probleme der Niederländer doch relativ klein. Sein 4-2-3-1, das van Marwijk spielen lässt, könnte er blitzschnell in ein anderes System verwandeln – wenn er wollte. So hat man Oranje in den Testspielen nie ernsthaft mit mehr als einem Stürmer üben sehen, außer für ein paar sehr wilde Minuten im ersten Test gegen Bulgarien, als van Persie nach einer Stunde Kuyt zur Seite gestellt bekam. Eine Viertelstunde vor dem Ende kam sogar noch Huntelaar, um aus dem Sturm-Duo ein Trio zu machen. Zu einem Tor führte das nicht – dafür zu einem Gegentreffer in der Nachspielzeit. Van Marwijk wird also wissen, was passieren kann, wenn die Abwehr entblößt wird.

Den Gegner vom eigenen Tor fernhalten

Ein ähnliches Luxusproblem plagt van Marwijk auf der Zehn. Soll es dort van der Vaart spielen lassen oder Sneijder? Beide zusammen werden wohl nicht auslaufen, und so wie es momentan aussieht, hat Sneijder die Nase vorn, obwohl van der Vaart eine bessere Form aufweisen kann. Doch Sneijder ist der defensiv wertvollere Spieler, er arbeitet mehr nach hinten, erobert mit van Bommel und de Jong zusammen mehr Bälle, und das wird genau das sein, auf das es für den Bondscoach ankommen dürfte. Denn im Defensivverbund ist nicht nur die linke Außenposition ein Risiko. Innenverteidiger Joris Mathijsen ist angeschlagen, Wilfried Bouma und John Heitinga verkörpern nicht eben das, was man einen modernen Abwehrspieler nennen könnte. Noch-VfB-Profi Khalid Boulahrouz kann zwar Rechtsverteidiger und Innenverteidiger spielen, fiel in Stuttgart die letzten acht Spiele allerdings verletzt aus. Zudem gilt für ihn das gleiche wie für die Konkurrenten – ein Verteidiger der alten Schule.

Die Option, van der Vaart für de Jong einzusetzen, wird van Marwijk wohl auch nicht ziehen, obwohl Erstgenannter das Anforderungsprofil eines Umschaltspielers perfekt erfüllt. Doch der Trainer hätte dadurch nur die Debatte zwischen van der Vaart und Sneijder erstickt und dafür eine andere Baustelle aufgemacht. Dabei wäre es für einen moderneren Fußball enorm wichtig, ließe der Bondscoach de Jong, der lediglich das gegnerische Spiel zerstören möchte (siehe das WM-Finale 2010), auf der Bank und brächte van der Vaart für ihn. Das zentrale defensive Mittelfeld der Niederländer ist eine klare Schwachstelle, weil nicht konstruktiv genug wie etwa das der Spanier mit Xavi, Busquets, Iniesta oder Alonso oder das der Deutschen mit Khedira, Schweinsteiger oder Kroos. So wird Oranje bei der EM gar nicht viel übrig bleiben, als stets munter nach vorn zu spielen in der Hoffnung, den Gegner so wenigstens vom eigenen Tor fernhalten zu können.