Die Unökonomischen

Die deutsche U17-Nationalelf scheitert in Mexiko nur an sich selbst – und begeistert die Zuschauer in Mittelamerika. So, wie es aussieht, wächst da eine goldene Generation heran.

Eine einzige Niederlage hat die deutsche U17-Mannschaft bei der WM in Mexiko hinnehmen müssen – ausgerechnet im Halbfinale, ausgerechnet gegen den Gastgeber, ausgerechnet durch einen Gegentreffer zum 2:3 in der 90. Minute, den – ausgerechnet – jener Mexikaner (Gomez) erzielte, den das Stadion schon zuvor frenetisch gefeiert hatte. Gomez musste mit einer Platzwunde vom Platz, und weil Mexiko schon drei Mal gewechselt hatte, banden sie ihm einen Turban um den Kopf, wie sie es bei den Bayern weiland mit Dieter Hoeneß getan hatten, und unter gewaltigen Applaus kehrte Gomez auf das Spielfeld zurück. Das Publikum drehte natürlich durch, als das Sieg bringende Tor für die Mexikaner fiel, und die Deutschen? Vergruben ihre Gesichter in den Händen, schluchzten, manche weinten hemmungslos – und waren kurze Zeit später beinah schon wieder stolz auf das Erreichte, was letztendlich im einer Bronzemedaille mündete. Nach einem grandiosen 4:3 gegen den Nachwuchs aus Brasilien.

25 Tore haben die Schützlinge von Trainer Steffen Freund in sieben Spielen erzielt, mehr als jede andere U17 bei jeder anderen WM zuvor. Allein elf waren es in den drei Spielen der Vorrunde, allerdings gegen Gegner minderer Gewichtsklassen: Panama, Burkino Faso, Ekuador. Doch auch in den K.O.-Spielen trafen Yesil und Co. beinahe so, wie sie wollten. 4:0 gegen die USA, 3:2 gegen England, und dann kamen das Halbfinale und das Spiel um Platz drei.

Ausgerechnet der 94er Jahrgang

Eine wahrhaft goldene Generation ist es, die da heranwächst, sie spielt bei Bayern München wie Kapitän Emre Can, bei Bayer Leverkusen wie Samed Yesil und Okan Aydin, bei Werder Bremen wie Cimo Roecker und Levent Aycicek, bei Schalke 04 wie Kaan Ayhan und Noah Korzowski, bei Borussia Dortmund wie Koray Günter, beim 1. FC Köln wie Mitchell Weiser (der Sohn des früheren Bundesliga-Profis Patrick Weiser) und beim VfB Stuttgart wie Torwart Odisseas Vlachodimos, Rani Khedira (Samis Bruder) und Robin Yalcin. Experten sagen, es ist dies der beste deutsche Jahrgang aller Zeiten, und wenn man sie gesehen hat in Mexiko, könnte man dazu neigen, den Experten in ihrer Meinung zu folgen.

Ausgerechnet der 94er Jahrgang, könnte man sagen. 1994 war so etwas wie ein Traumajahr für den deutschen Fußball. Effenberg zeigte dem US-Publikum bei der WM den berühmten Finger und dann flog die deutsche Mannschaft auch noch im Viertelfinale aus dem Turnier – gegen Bulgarien. Das Jahr gilt im Rückblick als Einleitung des Niedergangs; zwar wurde Deutschland bekanntermaßen noch einmal Europameister zwei Jahre später, doch dann kam die bescheidene WM 1998 in Frankreich (Aus im Viertelfinale gegen Kroatien), die EM 2000 mit dem Aus in der Vorrunde, der Ausrutscher nach oben 2002 in Japan und Südkorea und das abermalige Vorrundenaus 2004 bei der EM in Belgien und den Niederlanden.

Trotz aller Klasse ist noch Luft nach oben

Wenn es einige der aufgezählten Talente in die Bundesliga und in die Nationalelf schaffen sollten, wird dem Jahr 1994 der Schatten genommen werden, der auf ihm liegt. Nach sportlichen Gesichtspunkten dürfte kaum etwas dagegen sprechen, die Spieler sind zu gut, um es nicht zu schaffen, und schon beginnt der türkische Fußballverband, die Spieler mit türkischem Migrationshintergrund zu umwerben – und von denen gibt es einige in der Mannschaft. Der DFB wäre gut beraten, dagegenzuhalten und einige von ihnen lieber zu früh als zu spät an sich zu binden, sonst endet die Geschichte wie bei Nuri Sahin. Steffen Freund allerdings hatte sinngemäß gesagt, er denke, die Spieler würden sich für Deutschland entscheiden. Bleibt zu hoffen, dass es Recht behält.

Sie verfügen allesamt über außerordentliche Begabungen in Sachen Technik, Übersicht, Spielintelligenz und Tempo. Es klingt reichlich seltsam, aber genau jener Überschuss im Tempospiel war es, der die Niederlage gegen Mexiko veranlasste. Anstatt zwischen durch die Geschwindigkeit herauszunehmen, gingen die Deutschen nach dem Ausgleich auf Teufel komm raus auf das 2:1, und als das Tor nach der Pause endlich gefallen war, da schien es so, als würden ihnen die Kräfte etwas schwinden. Eine etwas ökonomischere Spielweise hätte wahrscheinlich zum Sieg und damit zum Finaleinzug gereicht. Andererseits ist es vielleicht ganz gut so, wie es ist. Die Spieler haben gemerkt, dass sie trotz aller Klasse noch Luft nach oben haben und an sich arbeiten müssen. Im Hinblick auf ihre Entwicklung ist das vielleicht viel mehr wert als mit 17 einen Weltmeistertitel geholt zu haben. Die Jungs werden das mit dem nötigen Abstand vermutlich auch so sehen.