Flucht nach vorn

Der FC Schalke 04 überrascht unter Huub Stevens mit vielen Toren und einer Abkehr vom alten Prinzip des „die Null muss stehen“, das der Niederländer früher propagierte. Doch eigentlich bleibt Stevens mit seinem Spielermaterial gar keine andere Chance, als den Weg nach vorn zu suchen. Der Versuch einer Analyse einer taktischen Wandlung der Gelsenkirchener.

Dass der alte Satz nicht mehr gilt oder zumindest nicht mehr viel – damit war kaum zu rechnen. Selbst die Auguren, die Woche für Woche als Experten im Pay-TV ihre Analysen abgeben, dürften mit allem gerechnet haben, nicht aber damit, dass Huub Stevens‘ alter Satz („die Null muss stehen“) so was von gar nicht mehr gilt. Ein Satz, zu dem wir auf Fussballtraining.de seinerzeit auch schon unsere Vermutungen angestellt haben (https://www.fussballtraining.de/vermischtes/gilt-der-alte-satz-noch-immer/3919). Der Niederländer scheint nicht mehr viel davon zu halten, jedenfalls liegt diese Vermutung nahe. 34 Gegentreffer sind kein Topwert für eine Spitzenmannschaft, doch dafür hat Schalke mit 58 eigenen Treffern die zweitbeste Offensive der Liga. Und das liegt nicht nur am Wunderstürmer Klaas Jan Huntelaar.

Der Kader, den Stevens in Gelsenkirchen vorgefunden hat, lässt dem Trainer allerdings so viele Möglichkeiten gar nicht. Soll heißen: Schalke ist dazu verdammt, zu stürmen – das kann natürlich auch nach hinten losgehen, so wie beim 0:3 in Mönchengladbach, dem gleichen Ergebnis in Stuttgart oder den beiden 0:2-Pleiten gegen den FC Bayern. Doch diese Niederlagen sind selten in dieser Saison, weil die Mannschaft dazu zu stabil und vor allem zu dominant ist. Schalke macht fast immer das Spiel, und taktisch gesehen bleibt den „Knappen“ kaum eine andere Wahl, jedenfalls dann, wenn auf dem Platz deutlich mehr Offensiv- als Defensivkräfte stehen. Beim jüngsten 4:1in Kaiserslautern las sich die Startelf wie folgt: Hildebrand im Tor, in der Viererkette Fuchs, Uchida, Papadopoulos und Matip; im Mittelfeld agierten auf der Sechs Jones und Holtby und davor Draxler, Farfan und Raúl. Ganz vorn durfte wie immer Stevens Landsmann Huntelaar ran, dem zurzeit fast alles gelingt. Mit 20 Treffern liegt er in der Liste der Torjäger auf Platz zwei hinter Mario Gomez (22 Tore).

Dem Gegner das Spiel diktieren

Doch um die erzielten Tore geht es gar nicht einmal im Schalker System, sondern vielmehr darum, dass die taktische Vorgabe mit einer solchen Aufstellung klar ist: dem Gegner wird das eigene Spiel aufgezwungen. Von den zehn Feldspielern, die in der Pfalz den Betzenberg eroberten, sind mindestens sechs dabei, die ausschließlich offensiv denken, nämlich Huntelaar, Raúl, Draxler, Farfan, Holtby – und Außenverteidiger Fuchs. Und auch die Verteidiger Matip und Papadopoulos sind nicht nur bei eigenen Offensivstandards am und im gegnerischen Sechzehner zu finden. Kurz gesagt hat der FC Schalke 04 da eine Mannschaft beisammen, die gar nicht defensiv spielen kann. Also heißt es, die Flucht nach vorn anzutreten.

So etwas muss natürlich nicht zwangsläufig gut gehen, und genau an dieser Stelle beginnt das Verdienst von Huub Stevens. Dass mit einer solchen Offensivwucht hinten nicht unbedingt die oben erwähnte Null stehen muss, das weiß der Trainer offensichtlich, und so versucht er erst gar nicht, seine Truppe in ein taktisches Konzept zu stecken, in dem sie sich nicht wohlfühlt. Das Potenzial zur stürmischen Kreativität, das Spieler wie Draxler, Holtby und Farfan besitzen – also fast das gesamte offensive Mittelfeld –, bedeutet im Umkehrschluss, dass das defensive Denken oft vernachlässigt wird. Also lässt Stevens als Absicherung Jermaine Jones im Mittelfeld spielen und vertraut darauf, dass Linksverteidiger Fuchs zumindest gelegentlich auch an das Absichern des eigenen Tores denkt. Dass ihm das meist gelingt (wie auf rechts auch dem Japaner Uchida), ist einer der Schlüssel des derzeitigen Schalker Hochs.

In der Offensive unberechenbar

Die eigentlich einzige Kehrseite, die dieses System birgt, wurde beim 1:0 der Lauterer durch Rodnei offenbar. Eine von rechts getretene Freistoßflanke zeigte, dass es genau Standards sind, die die Schalker anfällig machen. Torjäger Huntelaar sollte die Bewachung von Rodnei übernehmen, doch als der Brasilianer schließlich einköpfte, war er ganz allein auf weiter Flur; Huntelaar hatte ihn schlicht außer Acht gelassen. Stevens wird nun noch mehr daran arbeiten lassen, dass in der Vorwärtsbewegung keine Bälle verloren gehen, die evtl. ein Foul nach sich ziehen, um dem Gegner noch weniger Gelegenheiten zu geben, diese Schwachstelle der Standardsituationen auszunutzen. (Ein Beispiel, wie Stevens genau das trainiert, findet sich hier bei den Übungen „Passfolgen und Laufwege“ und Schalke-Trainingsspiel im taktischen System“.)

Das Spiel der Schalker ist zudem ungewohnt schön anzusehen, was lange Jahre anders war. Die Unberechenbarkeit in der Offensive macht es für jeden Gegner extrem schwer, die Angriffe zu durchschauen und so zu stoppen. Mal lässt sich Huntelaar ins Mittelfeld fallen, mal geht Draxler nach vorn, dann wieder bietet sich Raúl in der eigenen Hälfte an, dann taucht plötzlich Farfan im Strafraum auf. So gab es bei den vier Toren gegen den FCK vier verschiedene Torschützen: Holtby, Huntelaar, Raúl und Farfan. Dazu kommt, dass die Schalker momentan (nicht nur Huntelaar) den Torabschluss suchen, so fallen eben die zahlreichen Treffer. Dass die meisten davon auch noch tolle Tore sind, das dürfte Stevens vermutlich ziemlich egal sein.