Kein Mut zum Risiko

Bayer 04 Leverkusen spielt eine seltsame Saison. Anspruch und Wirklichkeit klaffen in der Liga auseinander, allein in der Champions League kann das Team bis jetzt überzeugen. Immer mehr scheint sich zu zeigen, dass Trainer Robin Dutt die Mannschaft zu passiv einstellt.

 

Es kommt des Öfteren vor im Fußball, dass ein bestimmtes Ergebnis am Ende gespaltene Ansichten auslöst. Am 20. Spieltag endete die Begegnung zwischen Bayer Leverkusen und dem VfB Stuttgart 2:2. Unentschieden also. Das Komische: Für den VfB fühlte sich der späte Punktgewinn an wie ein Sieg. Für die Werkself hingegen war der Ausgleich durch Martin Harnik in der 89. Minute eine gefühlte Niederlage. Das Seltsame war, dass beide Parteien mit der jeweiligen Deutung irgendwie richtig lagen. Dabei musste sich eigentlich vor allem Leverkusen glücklich schätzen, dass der Ausgleich – der VfB agierte ab der 63. Minute mit einem Mann mehr – erst so spät fiel, sonst wäre das Team von Robin Dutt Gefahr gelaufen, sogar noch das 2:3 zu kassieren. Doch Deutungshoheit hin und her: Wer wie die Bayer-Elf wieder in die Champions League möchte, muss zuhause anders auftreten. Vor allem in taktischer Hinsicht.

 

Nach dem Ausfall von Eren Derdiyok war die Startaufstellung keine große Überraschung. Und nach zehn Minuten erzielte Kießling das 1:0. Gegen einen verdatterten VfB, der die letzten vier Spiele nacheinander verloren hatte, begingen die Leverkusener dann allerdings den Fehler, kaum auf das zweite Tor zu spielen, man agierte eher abwartend und ließ den VfB kombinieren – bis zum Ausgleich in der 23. Spielminute. Danach egalisierten sich beide Teams auf mäßigem Niveau. Es mutete erstaunlich an, dass eine Mannschaft, die in der Champions League alle drei Heimspiele gewinnen konnte (gegen Genk, Valencia und Chelsea) kein Konzept, keine Ideen und keinen Esprit entwickelte, um gegen einen gewiss nicht starken VfB Stuttgart, der bis dahin erst acht Punkte in der Fremde sammeln konnte, zu Chancen zu kommen.

 

Blutleere Auftritte

 

Dabei half sogar der Schiedsrichter zunächst den Gastgebern. Nach einem umstrittenen Kontakt im Strafraum, Tasci brachte Bender ins Straucheln, zeigte Thorsten Kinhöfer auf den Elfmeterpunkt und Bayer konnte so erneut in Führung gehen. Doch wieder blieb Leverkusen zu zurückhaltend, zu passiv, außer einem schnellen und letzten Endes ungefährlichen Gegenstoß der Hausherren überließen diese wieder den Stuttgartern die Initiative. So kamen die Schwaben schon vor Kadlec‘ Platzverweis in der 63. Minute zu zwei Chancen durch Ibisevic. Die Zurückhaltung der Werkself wurde in Unterzahl noch deutlicher, gegen einen keineswegs drückenden VfB fand Bayer 04 keine Mittel, um die Abwehr zu entlasten. Spät kam der agile Sidney Sam für Bender, musste jedoch nach zwölf Minuten schon wieder verletzt vom Platz.

 

Seltsam auch, dass Trainer Dutt von seinem letzten Wechsel keinen Gebrauch machte. Immerhin saßen Spieler wie Ballack oder Renato Augusto, der erst in der 84. Minute für Sam kam, auf der Bank. Nach dem 1:1 in Bremen lieferte Leverkusen erneut eine sehr blutarme Partie ab, was durch Harniks späten Ausgleich berechtigterweise bestraft wurde. Und was zeitgleich Fragen aufwirft. Warum spielt Leverkusen in der Fremde besser und erfolgreicher, weswegen gelangen in zehn Heimspielen gerade einmal vier Siege? Inwiefern belastet es vor allem Robin Dutt, dass das angebliche Nicht-Thema – das Theater der Vereinsführung mit Michael Ballack – offenbar eben doch Thema ist? Und weswegen spielt die Mannschaft, die immerhin im Achtelfinale der „Königsklasse“ steht, so oft so leidenschaftslos? Das erklärte Ziel, am Ende wieder für die Teilnahme an der Champions League berechtigt zu sein, rückt jedenfalls nahezu wöchentlich weiter weg. Derzeit sind es schon neun Punkte Rückstand auf Platz vier.

 

Es wird nicht leichter

 

Bezeichnend für die Unsicherheit rund um die Mannschaft sind Aussagen wie die von Torwart Leno, dass sie das Spiel mit elf Mann „locker nach Hause gespielt“ hätten, dass ein Sieg verdient gewesen wäre. „Wir waren klar besser und hatten alles fest im Griff“, befand der Trainer, und es spricht nicht für Bayers Fähigkeit zur Selbstanalyse, sich den Tatsachen derart zu verweigern. Wer in der Bundesliga gewinnen will, muss zuhause anders auftreten; wer in die Champions League will, muss Einsatz, Leidenschaft, Kampfgeist und spielerische Finesse zeigen. Leverkusen hat derzeit von allem zu wenig. Und ob mit Parolen dieses Kalibers in Dortmund am kommenden Spieltag etwas auszurichten ist, bleibt zumindest fragwürdig.

 

Für Dutt wird es keinesfalls leichter in den kommenden Wochen. In der Champions League geht es gegen den FC Barcelona, alles andere als ein Scheitern wäre eine Sensation. In der Liga stehen nach Dortmund an: ein Heimspiel gegen Augsburg, das ist machbar, das Derby in Köln und ein Heimspiel gegen den FC Bayern. Kreativspieler Sidney Sam droht wie Torjäger Eren Derdiyok mehrere Wochen auszufallen. Und ob Dutt Ballack wieder einsetzen könnte, steht in den Sternen. Der Trainer muss sich also fragen, ob er so weitermacht wie bisher, ob er versucht, mit passiver Taktik erfolgreich zu sein – oder ob er Mut zum Risiko beweist. Ohne den geht es in der Bundesliga nicht.