Quo vadis, Borussia?

Vor einem Jahr war die Gladbacher Borussia Sinnbild für rückwärtsgewandten Angsthasen-Fußball. Der Abstieg schien beschlossene Sache. Doch dann übernahm Lucien Favre im Februar die Mannschaft – und lässt mit einem personell so gut wie unveränderten Team jetzt rasanten Tempofußball spielen.

Ja, im Moment steht Marco Reus im Mittelpunkt. In den letzten drei Bundesligaspielen hat der Youngster sieben Tore geschossen, und so stellen sich die Medien nach jedem Spiel inzwischen die Frage: Wann geht Reus, und wenn ja, wohin? An derlei Spekulationen wollen wir uns nicht beteiligen, sondern uns besser auf die Gegenwart konzentrieren. Und dabei die Fragen stellen: Warum hält niemand die Borussia aus Mönchengladbach auf? Weswegen schafft Lucien Favre mit dem gleichen Kader etwas, wovon sein Vorgänger Michael Frontzeck meilenweit entfernt war? Und schließlich: Wo wird der Höhenflug der „neuen Fohlen“ vom Niederrhein in dieser Saison noch führen?

Am 14. Februar schenken sich Frischverliebte jedes Jahr rote Rosen oder zumindest Schokoladenherzen. Am 14. Februar 2011 stand den leitenden Personen des Fußballclubs VfL Borussia Mönchengladbach der Sinn jedoch nicht nach Sentimentalitäten, am Tag zuvor hatte das Management die Trennung von Cheftrainer Michael Frontzeck bekannt gegeben. Am Valentinstag dann folgte die Verpflichtung eines Trainers, die gewiss nicht als Liebesheirat gedacht war. Jeder, der die Bundesliga verfolgt, wusste: da steckt eine langfristige Strategie hinter. Die Gladbacher wüssten wohl, dass sie absteigen würden, und mit Favre war ein Trainer verpflichtet worden, der schon während des Niedergangs aus der ersten Liga an der Zweitliga-Strategie arbeiten würde, an deren Abschluss der sofortige Wiederaufstieg stünde. Schon im Sommer war klar, dass diese Theorie nicht ganz haltbar war. Denn Borussia Mönchengladbach verhinderte den Abstieg mit einem wahren Kraftakt. Seit dem ersten Spieltag der Saison 2011/12 indes ist zudem klar, dass Favres Strategie sogar zu höheren Weihen in Deutschlands höchster Fußballklasse führen kann. Nach 13 Spieltagen liegt Mönchengladbach auf Platz drei, punktgleich mit Dortmund und nur zwei Punkte hinter dem Branchenprimus aus München. Was ist passiert?

Erst sah es aus wie Zufall, jetzt erkennt man den Plan

Schon als Trainer der Berliner Hertha hat Lucien Favre gezeigt, dass er es versteht, einer Mannschaft genau das Konzept überzustülpen, das sie für einen guten und erfolgreichen Fußball benötigt. In Mönchengladbach hat der Schweizer diese Übung perfektioniert. Favre lässt die Gegner „mit Tempo-Fußball in Grund und Boden“ stürmen, wie die WAZ nach dem 5:0 gegen Werder Bremen schrieb. Was am ersten Spieltag noch wie Zufall ausgesehen hat, als die Borussia mit 1:0 beim FC Bayern München gewann, hat sich inzwischen zur Gewissheit verfestigt, dass das alles einem Plan folgt. Acht Spiele gewonnen, zwei Remis, drei Niederlagen und ein Torverhältnis von 20:9 – das sind die nackten Zahlen. Und sie beinhalten die Antwort auf die erste Frage, warum keiner die Gladbacher aufhält. Der erste Schritt sei die „Stabilisierung der Abwehr“ gewesen, so Favre. Bei gleichzeitiger Verbesserung der „Kreation von Chancen“. Die Verwertung der Chancen hat Favre gar nicht mehr erwähnt, das scheint eine Selbstverständlichkeit.

Womit wir zu Frage zwei kommen: die Frage nach dem Kader. Beim 5:0 gegen heillos überforderte Bremer war in der Startelf kein einziger Neuzugang zu finden im Vergleich zur letzten Saison. Favres Fußball folgt einem Plan, das ist zu erkennen; aus einer stabilen Abwehr lässt er schnell und direkt nach vorn spielen – und er hat dafür mit Marco Reus, Roman Neustädter, Patrick Herrmann, Juan Arango und Mike Hanke die richtigen Spieler und vor allem jede Menge Optionen. Das macht die Gladbacher so unberechenbar. Zum Vergleich: In Frontzecks letztem Spiel, beim 1:3 auf St. Pauli am 12. Februar, liefen im Mittelfeld noch Michael Fink und Mohamadou Idrissou sowie im Sturm neben Hanke der derzeit verletzte Igor de Camargo auf. Im Mittelfeld bildeten Fink, Neustädter, Herrmann und Idrissou eine Raute. Das machte die Borussia wesentlich berechenbarer als die heutige Formation. Favre hat an wenigen, aber entscheidenden Stellschrauben gedreht, und schon funktioniert das Gesamtwerk. Ein entscheidender Pluspunkt war auch Favres zum damaligen Zeitpunkt (29. Spieltag am 10. April) mutige Entscheidung, für die letzten sechs Spiele den jungen Marc-André ter Stegen ins Tor zu stellen.

Noch ein Weilchen oben dabei

Bliebe also noch zu klären: Quo vadis, Borussia? Wo wird das alles enden? Da wir auch keine Glaskugel besitzen, die uns die Lösungen liefert, müssen wir uns an den derzeit herrschenden Fakten orientieren, und die besagen, dass mit einem dramatischen Einbruch der Gladbacher Qualitäten vorerst nicht zu rechnen ist. Oben ist alles eng beieinander, auch zwei, drei schlechtere Spiele reichen, um aus den ersten vier Plätzen zu rutschen – doch sie werden in Mönchengladbach sicher nicht den Fehler machen, dann sofort alles in Frage zu stellen. Man hat bei der Borussia derzeit das Gefühl, dass alle im Club wissen, wo der Club herkommt – nämlich aus dem knallharten Abstiegskampf. Noch scheint den Spielern der Erfolg nicht zu Kopf zu steigen. Das bedeutet, die Gladbacher, die neuen Fohlen, dürften sich zumindest noch ein Weilchen in den oberen Tabellenregionen aufhalten. Zumindest dann, wenn Favres Plan weiterhin aufgeht.