Spanien auf dem Höhepunkt

Das Positionsspiel der Spanier überfordert auch die ansonsten starken Italiener im Finale von Kiew. So darf die Welt weiter raunen, dass Spaniens Fußball der Fußball der Zukunft ist – seit vier Jahren gilt das nun schon. Wer über eine solch lange Zeit Vorbild ist, kann nicht viel falsch gemacht haben. Zudem ja auch der FC Barcelona die meisten Spieler abstellt und den Stil des Madrilenen del Bosque entscheidend beeinflusst hat.

Mit ein wenig zeitlichem Abstand zum EM-Turnier, also in ein paar Wochen oder Monaten, wird vielen Beobachtern erst dämmern, dass man sich eigentlich wünschen müsste, dass dem spanischen Fußball irgendwann die Talente ausgehen mögen, auf dass andere Mannschaften auch mal wieder eine Chance haben, wenn es mit der Nationalelf Titel zu gewinnen gibt. Das Problem dabei ist nur, dass den Spaniern die Talente in absehbarer Zeit nicht ausgehen werden. Man nehme nur mal jene Über-Mannschaft, die jetzt den dritten Titel in Reihe geholt hat, nach dem EM-Erfolg 2008 und der WM-Krone 2010. Sicher, einige Spieler sind wohl auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft, Xavi etwa, der geniale Regisseur, ist 32 Jahre alt, Xabi Alonso wird 31, Casillas ist schon 31. Das bedeutet aber, dass sie bei der kommenden WM alle noch einmal spielen werden, Alonso und Casillas womöglich sogar darüber hinaus. Der Rest der Mannschaft hat den Zenit womöglich noch gar nicht erreicht: Jordi Alba (23), Sergio Ramos (26), Gerard Piqué (25), Sergio Busquets (wird 24), Andres Iniesta (28), Cesc Fabregas (25), David Silva (26) und Pedro Rodriguez (wird 25).

Das Gros dieser Mannschaft entstammt der unermüdlich Juwelen ausspuckenden Talentschmiede des FC Barcelona, La Masia. Für alle Mannschaften, die 2014 oder 2016 einen Titel holen wollen, muss sich das anhören wie eine schlimme Nachricht. Die spanischen Vereine bilden exzellente Spieler aus, machen sie früh vertraut mit einem System, wie es Barca perfektioniert hat; Ballbesitz ist alles. Irgendwann kommen sie zur Nationalmannschaft und dürfen dort ihr System einfach weiterspielen. Und es ist ja nicht so, dass die Spieler aus Madrid mit diesem System nichts anfangen könnten, im Gegenteil. Der seit Jahren von Barcelona gepflegte Stil wurde von Vicente del Bosque für die A-Nationalelf fast eins zu eins übernommen, inzwischen können Xabi Alonso und Ramos sich damit komplett identifizieren.

Wie sich Spaniens Taktik blitzartig materialisieren kann

Beim 4:0 im Endspiel über Italien, das Ergebnis ist wohl zwar etwas zu hoch ausgefallen, machten die Spanier klar, warum auch in Zukunft kein Weg an ihnen vorbeiführen wird. Das Kurzpassspiel, das zwischendurch auch mal kritisiert wurde, ist, richtig betrieben, eine Spielart, gegen die kein anderes Team auf der Welt derzeit etwas ausrichten kann. Es mag einzelne Spiele geben wie die Halbfinalpaarungen der Champions League, als Chelsea das Barca-Spiel zerstörte, auch die Spanier hatten gegen Kroatien und Portugal streckenweise Probleme. Im Finale spielten sie so, wie sie es sich immer vornehmen, was in dieser Perfektion natürlich dennoch selten klappen kann. Und trotz aller spanischen Probleme im Halbfinale – eine echte Chance hatte auch Portugal nicht. Meist bekommen die Gegner, wie es neuerdings heißt, keinen Zugriff auf das Mittelfeld, soll heißen: Das Spiel läuft an ihnen vorüber, weil die Spanier den Ball einfach nicht verlieren, da im Mittelfeld immer mindestens zwei Spieler anspielbereit sind. Gegen die Italiener gab es über 90 Minuten so gut wie keine Ausnahme von dieser Regel, und die große Kunst dahinter, die selten auffällt, lautet, dass Spaniens Spiel ohne Ball kaum noch zu verbessern ist.

Trainingshilfen für das Koordinationstraining

Diese These hat sich etwa in jenem Moment materialisiert, als Jordi Alba in der 40. Minute hinten den Ball erhielt. Er dribbelte los, zog an, passte auf Regisseur Xavi, der wie immer gleich mehrere Italiener auf sich zog. Doch Alba rannte einfach weiter, er scherte sich nicht darum, dass er linker Verteidiger ist und sprintete also die rechte Abwehrseite der Italiener hinunter, während Xavi den Ball am Fuß immer weiter trieb und plötzlich, weil auch die anderen Mitspieler in Position liefen, mehrere Optionen hatte. Italiens Spieler sahen das auch, und das war genau ihr Problem. Keiner konnte Xavi so richtig angreifen, ohne eine Lücke in der Defensive zu offenbaren, und erst recht konnte keiner vorausahnen, wohin dieser den Ball spielen würde. Also führte er ihn noch ein paar Meter am Fuß, als Alba – der ihn längst im Vollsprint überholt hatte – tatsächlich noch einmal beschleunigte und in eine winzige Lücke in der Abwehr zwischen den Italienern hindurchschlüpfte. Und weil der Laufweg den Pass bestimmt, brauchte Xavi nur noch in diese Lücke zu passen, um Alba allein vor Buffon in Position zu bringen. Das Tor war dann fast Formache.

Keine Zufälle im spanischen Spiel

Bis auf eine kleine Ausnahme: Xavis Abspiel war an Schwierigkeit fast nicht zu überbieten, er musste mehrere Faktoren berücksichtigen. Zum einen: Wo machen die Italiener den Passweg dicht? Zum zweiten: Wie schnell läuft Alba? Zum dritten: Rücken die Italiener raus, spielen sie vielleicht auf Abseits? Und viertens spielte schließlich auch noch die Eigengeschwindigkeit eine Rolle bei der Frage, wie der Pass getimt werden musste. Was dann passierte, was Perfektion pur. An Xavis Pass stimmte einfach alles. Dass das bei Spanien kein Zufall ist, zeigte nicht zuletzt auch das 1:0, als Iniesta – offiziell auch bester Spieler der EM – einen ähnlichen Ball auf Fabregas spielte.

Es sind dies jene Momente, die dem blendenden Spiel der Spaniern die Krone aufsetzen, es sind Momente, in denen aber auch klar wird, dass an dieses Spanien keine andere Mannschaft so bald heranreichen wird. Nicht Italien, nicht Deutschland, nicht Portugal, und in Europa sonst sowieso niemand. Das und das erwähnte Spielerreservoir könnte dafür sorgen, dass dem noch länger so sein wird. Spanien befindet sich auf dem Höhepunkt – oder vielleicht auch noch nicht.