Wankende, fallende Riesen

Argentinien und Brasilien sind bei der Copa America im Viertelfinale ausgeschieden und entfernen sich immer weiter von der Spitze des Weltfußballs. Warum nur? Eine Spurensuche.

Die Aufstellungen lesen sich wie das Who Is Who des Weltfußballs, und sie sind es auch. Argentinien spielte gegen Uruguay u.a. mit: Zanetti, Milito, Burdisso, Mascherano, Gago, di Maria, Messi, Aguero, Higuain, Tevez. Brasilien spielte gegen Paraguay immerhin noch mit: Maicon, Lucio, Thiago Silva, Pato, Robinho, Neymar, Fred und Elano. Fast könnte man meinen, es handle sich jeweils um eine Weltauswahl. Ganz von der Hand zu weisen ist diese Vorstellung jedenfalls nicht, und darum ist es umso erstaunlicher, dass beide Favoriten bereits im Copa-Viertelfinale die Segel streichen mussten. Warum? Versuch einer Spurensuche.

Beginnen wir mit der „Albiceleste“, der argentinische Nationalmannschaft. Die stand unter enormem Druck, weil der Copa-Titel letztmalig vor 18 Jahren nach Argentinien ging und weil die Argentinier als Gastgeber dieses Mal Heimrecht hatten. Ein Selbstläufer sollte es werden und wurde es nicht, und das hat viel damit zu tun, dass die Erwartungshaltung der Fans einerseits enorm ist, sie andererseits jedoch kein Verständnis aufbringen für die Spieler aus Europa, die fünf der letzten sechs Spielzeiten durchspielen mussten. 2006: WM in Deutschland. 2007: Copa America in Venezuela. 2008: Olympische Spiele in Peking. 2009 war spielfrei, 2010 WM in Südafrika und nun eben die Copa. Wer will da erwarten, dass Messi, Tevez, Gago, Mascherano und Co. fit und spritzig sind? Zumal die Belastung durch die nationalen Ligen und die Champions League schon während der normalen Saison enorm hoch ist. Jedes Jahr.

Zum Abschuss freigegeben

Bei den Argentiniern kam erschwerend hinzu, dass eine Mannschaft auf dem Platz steht, die sich eigentlich kennt, der es aber durch die Trainerrochaden seit 2004 – Pekermann, Basile, Maradona, Batista – an Führung und Stabilität fehlt. Die argentinische Lösung in jedem Spiel heißt darum: Lionel Messi. Sie geben ihm stets den Ball, warum auch nicht, schließlich klappt es bei Barça ja auch; und wenn es schiefgeht, dann heißt es hinterher nicht etwa, dass ihm die exzellenten Partner fehlen (Pedro, Xavi, Iniesta, Busquets, Villa etc.), sondern dass er abtauche und keine Leistung bringe. Messi wird in Argentinien inzwischen fast verachtet, ein „Spanier“ sei er, urteilt die Öffentlichkeit, der nur für die Albiceleste auflaufe, damit er parallel seine Familie in Rosario besuchen kann.

Soll das positive Motivation sein? Eigentlich kein Wunder, dass Messi in diesem Zwei-Fronten-Krieg aufgerieben wird. In Barcelona wird er vom Trainer gestützt, von der Mannschaft gestärkt, damit er das Team mitreißt – in Argentinien wird er sinnbildlich zum Abschuss freigegeben. Die Albiceleste versagte nicht aufgrund fehlenden Könnens, sondern ging am Druck zugrunde, wie schon bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010. Was außerdem nahezu jeder übersieht: Argentinien scheiterte nicht an irgendjemandem, sondern am WM-Vierten von 2010, an Uruguay.

In jeder Sommerpause ein Turnier – seit knapp zwei Jahrzehnten

Und wie sieht es beim Nachbarn und Erzrivalen unter dem Zuckerhut aus? Die These mit der Müdigkeit muss hier noch viel mehr gelten als für Argentinien. Die Brasilianer hatten ihren letzten freien Sommer im Jahr – 1992! Natürlich spielt längst kein Teilnehmer der Copa America von 1993 mehr mit in der „Seleçao“, doch das Dilemma ist klar: Brasiliens Nationalkicker haben im Prinzip keine Zeit zur Erholung. Robinho etwa: Seit 2003 spielt er in der gelb-blauen Auswahl, und bis auf 2004 und 2008, als in der jeweilige Trainer nicht mit zu den Olympischen Spielen in Athen und Peking nahm, musste er in jeder Sommerpause bei einem Turnier mitspielen. Und was soll da erst Lucio sagen? 2001, 2002, 2003, 2005, 2006, 2009 und 2010 hatte der im Sommer nicht frei, ähnlich ergeht es Spielern wie Maicon und mit Abstrichen Torwart Julio Cesar.

Im Viertelfinale spielten die Brasilianer Paraguay förmlich an die Wand, hatte Chance um Chance und scheiterte jedes Mal kläglich am Torwart – bevor es grotesk wurde: Von vier Strafstößen brachte die Seleçao tatsächlich keinen einzigen im paraguayischen Tor unter; dem Gegner genügten somit zwei Elfmetertore, um Brasilien auszuknocken.

Die Verlierer des Weltfußballs

Wer nun denkt, alles sei also nur Pech gewesen für Brasilien, der irrt: Schon in der Vorrunde wankte der Riese. Im dritten Spiel gegen Ecuador ging es um alles oder nichts. Brasilien gewann 4:2, hatte dabei aber wie schon in den ersten Gruppenspielen (0:0 und 2:2 gegen Venezuela und ebenfalls Paraguay) keinen guten Eindruck hinterlassen. Selbstkritik war aus dem brasilianischen Lager nicht zu hören: Alles sei Teil eines größeren Plans, der auf die WM 2014 im eigenen Land zugeschnitten sei.

Brasilien und Argentinien sind momentan die Verlierer im Weltfußball, sie schaffen es seit vielen Jahren nicht mehr nach ganz oben. Beide schieden bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 jeweils im Viertelfinale aus. Doch statt grundsätzliche Überlegungen anzustellen, wie es weitergehen soll, wird hier wie dort versucht, nur etwas Farbe über den abblätternden Putz zu streichen in der Hoffnung, dass es schon keiner merkt. Nutznießer sind momentan andere südamerikanische Fußballländer wie Paraguay und Uruguay, die sich aus dem Windschatten der beiden Großen gelöst haben. Irgendwie ist das ja auch ganz gut für den Fußball, und nicht für Fußball nur den in Südamerika.