Wann platzt der Knoten?

Defense wins Championships: Die deutsche Frauen-Nationalmannschaft glänzt bislang nur in der Verteidigung, aber das kann noch Gold wert sein

Wer sich am Sonntag, den 3. Juli, im Wolfsburger Stadion befunden und dort seine Freizeit verbracht hat, wer also einfach nur Zuschauer war beim 3:0 der brasilianischen Frauen-Nationalmannschaft gegen die Norwegerinnen, dürfte vom Anpfiff weg nicht schlecht gestaunt haben. Denn etwas Seltsames, Unerwartetes, nachgerade Unglaubliches offenbarte sich dem Publikum: Brasilien spielte mit Libero. Und nur für den Fall, dass jemand diesen Beitrag liest und ansonsten nicht allzu tief drin ist in den Offenkundigkeiten und Geheimnissen des modernen (Frauen-)Fußballs: Der Libero – oder, in diesem Fall, die Libero-Frau – ist im Weltfußball vor etwa zehn Jahren von der Bildfläche verschwunden, und zwar radikal. In etwa so gründlich, wie es den letzten Säbelzahntiger vor grob 10.000 Jahren dahingerafft hatte. Der Begriff Libero, er ist zum Unwort des Fußballs im 21. Jahrhundert verkommen, und nicht einmal mehr Otto Rehhagel wäre in den letzten Jahren als griechischer Nationaltrainer auf die Idee gekommen, den „freien Mann“ zu reanimieren.

Doch genug des sanften Spotts, schließlich hat die Realität an jenem Sonntag in Wolfsburg gezeigt, dass nichts unmöglich ist im Fußball. Und Brasilien hat schließlich gewonnen, wenn auch um mindestens ein Tor zu hoch, was man von der deutschen Frauen-Nationalelf nach zwei Spielen nun nicht gerade behaupten konnte (dieser Beitrag ist einen Tag vor dem dritten Gruppenspiel gegen Frankreich entstanden): Zwei Spiele, zwei Siege, sechs Punkte, 3:1 Tore. Eine ordentliche Bilanz, die sich mit dem vorzeitigen Einzug ins Viertelfinale schmückt, jedoch in krassem Gegensatz steht zu den letzten vier Spielen der WM-Vorbereitung. Da lautete die Bilanz nach den Begegnungen mit Nordkorea, Italien, den Niederlanden und Norwegen nämlich vier Siege mit 15:0 Toren. Gleicht man beide Rechnungen ab, so zeigt sich nur eine einzige Gemeinsamkeit – die stabile Defensive. (Der Gegentreffer bei der WM resultierte aus einem unhaltbaren und direkt verwandelten Freistoß der Kanadierin Christine Sinclair.)

Hinten hui und vorne, nun ja

Die deutschen Damen liefen in den beiden Spielen gegen eben Kanada (2:1) und Nigeria (1:0) zwar nicht mit Libero auf, dafür dürften die taktischen Vorstellungen von Bundestrainerin Silvia Neid viel zu modern sein. Dass jedoch auch die gesteigerten Wert auf eine stabile Defensive legt, ist in den bisherigen Spielen gut zu erkennen gewesen, und damit hinten möglichst die Null steht, sind in erster Linie Saskia Bartusiak und Annike Krahn verantwortlich. Die Innenverteidigerinnen spielen auch gemeinsam bei ihrem Club 1. FFC Frankfurt im Abwehrzentrum, und sie ergänzen sich recht gut. Während Bartusiak die technisch versiertere Spielerin ist, die hin und wieder mit nach vorn geht und auch den Spielaufbau übernehmen kann, ist Krahn fußballerisch eher limitiert – und dafür defensiv sehr stark. Das Spiel von hinten aufzuziehen liegt ihr hingegen nicht so sehr, und das ist mit ein Grund, warum der Spielaufbau und –fluss der deutschen Frauen bis dato noch nicht so recht ins Rollen kommen wollte.

Moment, könnte man hier einhaken. Krahn hat doch auch früher schon dort gespielt, wo sie jetzt aufläuft, nachdem eine Verletzung sie fast ein ganzes Jahr außer Gefecht gesetzt hatte, und damals wurden die Gegnerinnen schließlich auch überrannt, ob WM, EM oder Testspiel? Das ist so richtig wie falsch. Denn die WM hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis hierhin gezeigt, dass es auch bei den Frauen die so genannten „Kleinen“, früher hätten wir Kanonenfutter dazu gesagt, nicht mehr gibt. Nigeria? Im November haben die Deutschen die „Super Eagles“ noch mit 8:0 geschlagen, sicher. Aber nun, im zweiten Gruppenspiel, wählten die Frauen aus Westafrika zum einen eine sehr harte Gangart, die die Deutschen einschüchterte.

Kein Grund für Pessimismus

Zum anderen zeigte es sich, dass sie inzwischen auch das Forechecking beherrschen, womit sie die deutsche Hintermannschaft schon im Spielaufbau unter Druck setzten. Das führte zwar nicht dazu, dass die Nigerianerinnen selbst zu Torchancen kamen, aber immerhin dazu, dass die Deutschen auch keine hatten. Wenn Annike Krahn derart unter Druck gesetzt wird, reagiert sie mit Rückpässen, Querpässen oder, im schlimmsten Fall, Fehlpässen ins Mittelfeld. So kamen die deutschen Frauen kaum einmal mit einem ordentlichen Spielzug vor das gegnerische Tor.

Doch was heißt das nun? Müssen wir pessimistisch sein? Die klare Antwort darauf heißt: nein. Nicht zu Unrecht gibt es diese Sportlerweisheit, die lautet, „Offense wins games, Defense wins Championships“, der Angriff gewinnt Spiele, die Abwehr die Meisterschaften. Es ist kaum zu erwarten, dass Teams wie Frankreich, Brasilien, die USA oder England versuchen werden, gegen Deutschland ein derartiges Forechecking aufzuziehen, schließlich ist des enorm kräftezehrend. Und die Qualitäten, die Deutschland bis jetzt in der Defensive bewiesen hat, können noch Gold wert sein. Was sich in der Tat verbessern muss, ist das Spiel nach vorn, aber das hängt auch damit zusammen, dass auch das Mittelfeld bis jetzt nicht besonders überzeugend gespielt hat, von Simone Laudehr einmal abgesehen. Außerdem gibt es allerorten die Debatte über Birgit Prinz, die außer Form zu sein scheint. Diese Diskussion lenkt tatsächlich ein wenig davon ab, dass es einige Baustellen gibt im Team. Aber wie es so ist im Fußball: gut möglich, dass der Knoten bald platzt, und dann stellt sich alles sowieso neu dar. Nur eins wird so bleiben, wie es ist. Die deutsche Frauen-Nationalelf wird auch weiterhin ohne Libero auflaufen. Dazu bedarf es keinerlei hellseherischen Fähigkeiten.