Toranalyse | Frankreich – Deutschland 1:0 | Fehler im Stellungsspiel und Pogbas herausragende Passqualitäten

UEFA EM 2020 | Frankreich – Deutschland 1:0

Frankreich siegt dank seiner defensiven Stabilität, einem Paul Pogba in Höchstform und einem Fehler im Stellungsspiel der deutschen Mannschaft.

Das EM-Spiel zwischen dem aktuellen Weltmeister Frankreich und Deutschland klingt eigentlich nach einem Halbfinale oder einem Endspiel. Tatsächlich standen sich die beiden Nationen, welche aktuell für sehr unterschiedliche Spielphilosophien stehen, bereits in ihrem ersten Gruppenspiel gegenüber.

Da ist auf der einen Seite die Équipe Tricolore, die seit einigen Jahren mit ihrer Kompaktheit beim Spiel gegen den Ball, einem temporeichen Umschaltspiel und ihrer individuellen Klasse überzeugt.  Dem gegenüber steht eine deutsche Nationalmannschaft, welche immer noch ein wenig in einer Findungsphase steckt, aber sehr gut darin ist, das Spiel zu kontrollieren.

Vergleich der Spielsysteme Frankreich vs Deutschland

Deutschland agierte mit Ball in einem 3-4-3 und versuchte das zweikampfstarke, zentrale Mittelfeld um Pogba, Rabiot und Kante tendenziell eher außen zu umspielen. Demnach war es auch keine große Überraschung, dass Kimmich rechts und nicht im Zentrum agierte. Auf der Außenbahn sollte der Bayern-Spieler dem Mittelfeld-Trio der Franzosen ausweichen und das Spiel aus einer breiten Position gestalten.

Zu Beginn des Spiels agierte Frankreich gegen das 3-4-3 der Deutschen in einem 4-3-3. Die drei Spieler der ersten Pressinglinie der Franzosen agierten dabei auf einer Höhe, wodurch im Aufbauspiel der DfB-Elf ein 3 gegen 3 entstand. Toni Kroos kippte in der Folge dann öfters in die 3er-Kette seiner Mitspieler ab, um eine Überzahl zu erzeugen. Dies half den Deutschen den Ball sicher ins Mittelfeld zu den äußeren Spielern zu kombinieren. Da Pogba, Kante und Rabiot im Mittelfeld in Unterzahl agierten, kam es dann gelegentlich zu einer 2-gegen-1-Situation auf der linken Seite – Pavrad musste sich situativ allein mit Gosens und Havertz beschäftigen. Deschamps reagierte auf diese ungünstige Situation auf der linken Seite und zog die beiden äußeren Stürmer zurück, wodurch aus dem 4-3-3 ein 4-1-4-1 wurde.

Deutschland mit Ballbesitz im 3-4-3 gegen Frankreich im 4-3-3

Frankreich nach der Umstellung auf ein 4-1-4-1. Als Reaktion darauf, agierten die äußeren Spieler Deutschland deutlich höher, wodurch ein 3-2-5 mit Ball entstand. In dieser Abbildung ist Kroos wieder in die Kette abgekippt.

Frankreich mit Abwehrpressing und schnellem Konterspiel

Die gegensätzlichen Spielweisen spiegelten sich auch im aktuellen Aufeinandertreffen der beiden Fußballgrößen wider. Die DfB-Elf hatte mehr Ballbesitz und musste das Spiel nach dem frühen Führungstreffer der Franzosen zwangsläufig gestalten, da diese in der Folge sehr tief standen. Spätestens mit dem Anpfiff zur 2. Halbzeit agierte Frankreich fast ausschließlich im Abwehrpressing und überließ Deutschland die ersten beiden Drittel. So entstand für einen neutralen Beobachter möglicherweise der Eindruck, dass die Partie auf Augenhöhe stattfand.

Tatsächlich konnte Deutschland aber nur in den ersten 5-10 Minuten nach dem Seitenwechsel wirklich große Torgefahr erzeugen. Anschließend hatte Frankreich ihr letztes Drittel und ihre „Box“ wieder unter Kontrolle. Folglich blieben damit auch die klareren Torchancen der DfB-Elf wieder aus.

Deutschland kontrolliert das Spiel und muss hoch agieren

Didier Deschamps hat der deutschen Auswahl auch sehr bewusst große Teile des Spielfeldes überlassen. Dadurch war die deutsche Mannschaft gezwungen, relativ hoch zu agieren, was ideal für das starke Konterspiel der Franzosen war. Immer wieder wurden nach Balleroberungen schnell das Spiel in die Tiefe gesucht. Dabei war speziell Mbappe der Zielspieler, welcher im Rücken der deutschen Abwehr gesucht und auch häufig gefunden wurde. Der klare Tempovorteil sowie die außergewöhnlichen Fähigkeiten des jungen Franzosen sollten dann den Rest erledigen.

Wäre Mbappe nicht zweimal knapp im Abseits gestanden und hätte Hummels nicht seine überragende Grätsche ausgepackt, würde das Endergebnis vermutlich sogar 0:3 lauten. In dieser knappen Szene, in denen Deutschland das notwendige Quäntchen Glück hatte, sowie in der enormen Stabilität der französischen Hintermannschaft zeigt sich, dass die deutsche Niederlage durchaus gerechtfertigt war.

Aufgrund des Spielstandes war die Vorgehensweise der deutschen Elf ab einem bestimmten Zeitpunkt aber jedoch weitestgehend alternativlos. Joachim Löw musste höher agieren und mehr Risiko eingehen, um noch ausgleichen zu können. Die großen Räume hinter der deutschen Abwehr entstanden demnach fast zwangsläufig, wodurch Spielsituationen entstanden, in welchen ein Kylian Mbappe nur noch sehr schwer zu verteidigen ist.

Paul Pogba in Höchstform

Aber Mbappe ist natürlich nicht der einzige Ausnahmespieler der französischen Auswahl. Letztendlich wurde auch ein anderer französischer Spieler vollkommen gerechtfertigt zum Spieler des Spiels gewählt. Es war der defensiv, wie offensiv sehr präsente Paul Pogba. Der Achter überzeugte mit seiner starken Physis im Zweikampf, einer enormen Cleverness und Ruhe am Ball sowie mit einem überragenden Passspiel.

Immer wieder spielte Pogba, wie beispielsweise bei den beiden Abseitstreffern, den Pass in den Rücken der Abwehr – mal ein Chipball über die Kette, mal ein Schnittstellenpass mit dem Außenspann. Der herausragende Auftritt von Paul Pogba spiegelt sich besonders in der Entstehung des 1:0-Siegtreffers der Franzosen wider.

Analyse des Siegtreffers von Frankreich

Pavarad steht zum Einwurf auf der rechten Seite bereit.

In der Ausgangssituation agieren auf der ballnahen Seite sieben deutsche Spieler und fünf Franzosen. Rüdiger hat seine Dreierkette verlassen, um Benzema ins Mittelfeld zu Folgen. Auf der letzten Linie agiert Deutschland trotzdem noch mit 3 Spielern – Hummels, der sich zur Seite des Einwerfers orientiert hat, sowie Ginter und Kimmich, welche Mbappe im Zentrum sichern. Auf der ballfernen Seite steht Hernandez. Dieser wird bei der Entstehung des Tores noch eine wesentliche Rolle spielen.

Im Rücken von Gosens steht Pogba bereit. Dieser schiebt seinen Körper jedoch unmittelbar vor dem Einwurf direkt vor Gosens und wird angeworfen. Dabei versteht es Pogba sehr gut, seinen Körper einzusetzen. Mit beiden Armen hält er Gosens regelrecht hinter sich fest. Dadurch kann sich Gosens nicht aus dem Rücken von Pogba lösen, wodurch dieser den hohen Ball verarbeiten kann.

  • Pavard hat den Ball zu Pogba geworfen.

Nach seinem Einwurf startet Pavard direkt der Linie entlang. Zeitgleich behauptet Pogba den Ball weiter gegen Gosens und den doppelnden Rüdiger, welcher beim Einwurf noch für Benzeman zuständig war.

Vor dem Einwurf hat sich Griezmann sehr weit nach hinten fallen lassen und dabei Gündogan mitgezogen. Da Kroos sich zum Einwerfer orientiert, wurden bereits beide zentralen Mittelfeldspieler mit dem Einwurf überspielt. Dadurch kann sich Benzeman in den freien Halbraum lösen.

Auffällig ist, dass beiden zentralen Mittelfeldspieler der DfB-Elf sich vor dem Einwurf sehr weit nach vorn und auch auf die ballferne Seite bewegt haben. Speziell Gündogan, welcher der ballferne, zentrale Mittelfeldspieler ist, hätte Griezmann früher an einen Mitspieler übergeben und sich mehr nach hinten sowie in Richtung Feldmitte orientieren müssen. Stattdessen befinden sich Gündogan und Kroos unmittelbar nach dem Einwurf nicht mehr zwischen Ball und Tor und auch sehr weit außen – und das obwohl Pavard und Pogba dort eine 2-gegen-3-Unterzahlsituation vorfinden.

In der Spielsituation ist definitiv die Sicherung der Feldmitte zu kurz gekommen. Sowohl 2 der 3 Innenverteidiger als auch Gündogan und Kroos stehen wenige Meter von der Seitenauslinie entfernt. Alle 4 Spieler agieren „eigentlich“ in Positionen im Halbraum beziehungsweise in der Feldmitte. Im Fußball wird selbstverständlich ballorientiert verteidigt, jedoch spielt auch die Sicherung des Zentrums eine große Rolle. In dieser Situation hat Deutschland nicht die richtige Balance zwischen diesen beiden Ansprüchen beim Spiel gegen den Ball gefunden.

  • Pogba leitet den Ball zu Pavard weiter.

Durch das Zuspiel von Pogba auf Pavard ergibt sich ein Passfenster in Richtung Feldmitte zu Benzeman, der dort viel Raum vorfindet. Aller spätestens hier wird deutlich, dass Gündogan sich zu weit nach vorne sowie außen bewegt hat, anstatt den Raum vor der Abwehr

Pavard hat mit Hummels, Gosens und Rüdiger gleich drei Gegenspieler, welche sich vollkommen auf ihn konzentrieren aber keinen wirklichen Zugriff auf den Ball haben. Dieses Fokussieren auf Pavard nutzt Pogba aus, um sich ebenfalls in den freien Raum im Halbraum zu lösen.

  • Pavard spielt den Ball zu Benzema.

Nach dem Pass von Pavard auf Benzema rückt Ginter raus, um ein Aufdrehen des französischen Stürmers zu unterbinden. Dadurch ist Kimmich erstmal allein für Mbappe zuständig.

Auffällig ist, dass zwar viele deutsche Spieler in der Nähe des Balles sind, aber doch keinen wirklichen Zugriff auf diesen haben. Zum einen, weil sich die Innenverteidiger Hummels und Rüdiger sehr weit nach außen bewegt haben, um ein 1 gegen 3 am Flügel zu bestreiten. Vermutlich hätte sich hier einer der beiden Innenverteidiger frühzeitiger wieder in Richtung Feldmitte orientieren sollen. Und zum anderen haben die beiden zentralen Mittelfeldspieler von Deutschland immer noch kein Anschluss an das Spielgeschehen hergestellt – auch weil die Rückwärtsbewegung nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt wird.

  • Benzema hat den Ball auf Pogba abgelegt.

Mbappe führt einen Antritt in Richtung Feldmitte durch. Da Kimmich in der aktuellen Spielsituation allein für den Flügelstürmer zuständig ist, muss der deutsche Verteidiger den Laufweg mitgehen. Dieser Antritt von Mbappe ist sehr clever gewählt, da Kimmich in die Feldmitte gezogen wird und die Außenbahn für Hernandez geöffnet wird. Dieser ist zwar noch nicht in der Abbildung zu sehen aber bereits auf dem Weg nach vorn.

Zeitgleich hat Pogba genug Platz im Halbraum, um den Ball zu verarbeiten und eine Anschlussaktion vorzubereiten.

  • Pogba spielt einen Chipball auf Hernandez.

Die deutschen Spieler bekommen keinen Zugriff mehr auf Pogba, welcher bereits einen Chipball in den Lauf von Hernandez gespielt hat.

Dabei hat sich Pogba für die risikoreichere Option entschieden. Anstatt den Ball in die Breite zu Hernandez zu spielen, chippt Pogba den Ball in Richtung Grundlinie, in den Rücken von Kimmich.

  • Hernandez unmittelbar vor einer direkten Hereingabe.

Hernandez hat 2 Möglichkeiten, um das Zuspiel von Pogba direkt weiterzuspielen. Entweder er spielt den Ball scharf vor das Tor in Richtung Mbappe oder er bedient Benzema, welcher sich für einen Rückpass anbietet. Hernandez wählt die erste Option, welche zu einem Eigentor von Hummels und schlussendlich zum 1:0-Endstand führt.

Fazit der spielentscheidenden Szene:

In dem Tor zeigt sich deutlich, dass bereits 1-2 Fehler im Stellungsspiel gegen einen Gegner wie Frankreich weitreichende Konsequenzen verursachen können

Gündogan lässt sich als ballferner, zentraler Mittelfeldspieler zu weit nach vorn und außen ziehen. Dadurch werden beiden zentralen Mittelfeldspieler überworfen und fehlen vor der Abwehr, um Benzeman zu stellen. Aus diesem Grund muss Ginter rausrücken, wodurch Kimmich den Laufweg in die Feldmitte von Mbappe mitmachen muss. Dies öffnet die Außenbahn für Hernandez, welcher durch Pogba angespielt werden kann. Pogba hatte für den Chipball wiederum genug Zeit, da Gündogan nach seinem Stellungsfehler nicht konsequent genug in der Rückwärtsbewegung agiert hat.

Autor: Luis Österlein