Jung und jünger
Wie Joachim Löw etablierte Spieler dazu zwingt, sich ständig zu verbessern
Ein Fußballspiel beginnt immer, wenn der Schiedsrichter es anpfeift, so viel ist mal klar. Für einen Trainer aber beginnt ein Fußballspiel meist dann, wenn das vorherige geendet hat, spätestens seit Sepp Herberger selig weiß das jeder: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Und für die Zuschauer, ob im Stadion oder am Bildschirm, beginnen zumindest die Diskussionen mit der Bekanntgabe der Aufstellungen.
Die Aufstellung der deutschen Nationalmannschaft im letzten Spiel der Saison 2010/11 in Baku, Aserbaidschan, lautete: Neuer, Höwedes, Hummels, Badstuber, Aogo, Lahm, Kroos, Müller, Özil, Podolski, Gomez. Gesprächsstoff zu dieser Elf gab es vor dem Anpfiff, weil das immer so ist, und es gab ihn auch danach, weil es dann erst recht immer so ist. Keinen Gesprächsstoff lieferte dagegen ausnahmsweise einmal der Gegner, obwohl der von einem gewissen Berti Vogts trainiert wurde. Das Interesse der Medien und wohl auch der meisten Zuschauer richtete sich fast ausschließlich auf diese elf bzw. vierzehn Spieler, die da in Baku für Deutschland aufliefen. Oder zumindest auf einige von ihnen.
Die Etablierten sollten gewarnt sein
Während wir uns bei der WM in Südafrika noch ins Fäustchen lachten, wie prima doch unsere Innenverteidigung mit Mertesacker und Friedrich funktionierte, vermisst die beiden auf einmal niemand mehr, wenn an ihrer Stelle Hummels, Westermann, Badstuber oder sonst wer auf dieser Position auftauchen. Wenn Podolski nach 75 Minuten für Schürrle weichen muss, denkt keiner mehr: ach herrje, wer ist denn das nun wieder; und wenn Götze nach 80 Minuten für Özil kommt, fragt niemand: Götze? Für Özil? Was soll denn das? Wenn dann noch Müller Platz machen muss für einen jungen Mann namens Lewis Holtby, ertappt man sich die der Frage, wie verdammt lang diese WM 2010 eigentlich schon her ist. Özil, Müller und die in Aserbaidschan verletzten Khedira und Schweinsteiger waren die Shootingstars der deutschen Elf, und aufgrund ihres Alters dachten wir, dass das Gerüst der Löw-Mannschaft für die nächsten sechs oder acht Jahre nun steht.
Das tut es natürlich immer noch, doch der Bundestrainer zeigt, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Wer in seiner Leistung stagniert, fällt eher kurz- als langfristig aus der Mannschaft. Nun haben sich Özil, Müller, Khedira und Schweinsteiger ihre Sporen verdient, so schnell wird auch wieder kein Weg an ihnen vorbei führen; immerhin spielen sie alle bei Clubs, in denen sie permanent gezwungen sind, sich zu verbessern, selbst wenn sich im Sommer 2011 transfermäßig noch was ändern sollte. Aber ausruhen auf ihren Meriten, das dürfen sie nicht. Der Trainer zwingt die etablierten Kräfte durch das ständige Nominieren von jungen und guten Spielern wie Götze, Hummels und Holtby dazu, sich immer weiterentwickeln zu müssen. Und die Etablierten sollten gewarnt sein, schließlich gibt es in der jüngsten Vergangenheit der Nationalelf genügend Beispiele, die sie abschrecken sollten. Serdar Tasci etwa ist so ein Fall, Marcell Jansen gehört ebenso dazu wie Andreas Beck, Marcel Schäfer, Marko Marin oder Sascha Riether, und Jerome Boateng (bei der WM fast vollwertiger Stammspieler), Lukas Podolski und einige andere stehen permanent auf dem Löw’schen Prüfstand. Schließlich gibt es da noch Kandidaten wie Christian Träsch und Marcel Schmelzer, die jederzeit einspringen können.
Die Jungen sind heute weiter als früher
Eine Stammformation, jahrzehntelang so etwas wie die Wirbelsäule der Nationalelf und aus sportlichen wie aus hierarchischen Gründen oberstes Prinzip früherer Trainer, gibt es sowieso nicht mehr. Hatten wir während der WM geglaubt, die zukünftige Nationalmannschaft zu sehen, so wissen wir heute, dass wir nur gesehen haben, was die Elf zukünftig – zumindest unter Joachim Löw – ausmachen wird. Sie ist permanent gezwungen, sich weiterzuentwickeln, und gehorcht sie dieser Maxime nicht, so nimmt der Trainer darauf Einfluss, indem er sie von außen weiterentwickelt. Und zwar, indem er immer und immer wieder neue und begabte junge Spieler einsetzt.
Dass der Fußball ein schnelllebiges Geschäft ist, wissen wir längst, nicht zuletzt durch die ständig wiederkehrenden und wie Mantras vorgetragenen Äußerungen von Spieler, Trainern und Managern. Vor kurzem war Philipp Lahm die Hoffnung des deutschen Fußballs, jetzt ist er Kapitän der Nationalmannschaft, in Baku war Lahm der älteste deutsche Spieler auf dem Platz. Aber das eigentliche Seltsame an Löws Experimentierfreude (er würde den Begriff so wohl nie durchgehen lassen) ist, dass Deutschland nach sieben Spielen sieben Siege eingefahren hat und ein Torverhältnis von 22:3 aufweist. Somit drängt sich der Verdacht auf, dass jene jungen Spieler, die heute im Adlertrikot debütieren, viel weiter entwickelt sind als ihre Vorgänger vor sagen wir zehn Jahren. Maßgeblichen Anteil daran haben die Vereine der Spieler, aber auch das Jugendsystem innerhalb des DFB. Löw erntet gewissermaßen die Früchte der Arbeit, die in den Clubs und in den Nachwuchsnationalmannschaften geleistet wird.
Die schwierigsten Aufgaben bleiben dennoch dem Bundestrainer vorbehalten. Der Feinschliff der jungen Talente zum einen, und die dauerhafte Integration in die A-Nationalelf zum anderen. Wenn Letzteres nicht gelingt, drängen wohl schon bald neue Rohdiamanten nach, und vermeintlich Etablierte fallen aus der Mannschaft. Löws Zwang für die Spieler, sich ständig zu verbessern, ist zwar hart – aber er ist auch fair.