Dortmund richtet sich neu aus – fast
Mit dem Wechsel von Shinji Kagawa von Dortmund zu Manchester United verliert die Bundesliga den besten Akteur der letzten Saison – und die Borussia den Dreh- und Angelpunkt ihres Spiels. Können die Schwarz-Gelben diesen Verlust kompensieren? Und wenn ja: wie?
Er bekommt den Ball etwa 15, 20 Meter in der Hälfte des Gegners in die Gasse gespielt. Nimmt ihn an, dreht sich und läuft sofort los, auf den Gegenspieler zu, der ihn nicht angreifen will, weil dann der Weg zum Tor so gut wie frei wäre. Also läuft er mit dem Ball am Fuß in Richtung Strafraum, überlegt kurz, was er machen soll, dann sieht er, wie ein Mitspieler, aus der Mitte kommend, im Strafraum vor ihm kreuzt, den Gegenspieler ein kleines Stück mit hinauszieht. Das reicht. Shinji Kagawa spielt, nein, er streichelt den Ball dorthin, wo der Laufweg von Kevin Großkreutz enden wird, dann zieht er sein Tempo an und spurtet in den Sechzehner hinein. Großkreutz weiß das, er legt den Ball per Hacke zurück auf Kagawa, nicht ganz passgenau, aber Kagawa ist das egal. Im Wegrutschen schiebt er den Ball ins leere Tor, der Torwart Tom Starke hatte den Kasten verlassen, war nach links hinaus gelaufen, weil er vermutete, dass Großkreutz schießen würde. Die Vermutung war falsch.
Es sind Szenen wie diese, die den Anhängern von Borussia Dortmund in den letzten beiden Jahren massenhaft vorgeführt wurden und die sie in fortwährenden Freudentaumel versetzte. Überdurchschnittlich oft beteiligt an diesen Spielzügen, Torvorbereitungen aller Art oder Torschüssen: der Japaner Shinji Kagawa. Er war Dreh- und Angelpunkt des Dortmunder Angriffsspiels, nun lässt er Borussia Dortmund frustriert zurück, ohne jede Hoffnung, ihn ersetzen zu können.
Mehrere Optionen im Angriffsspiel
Dass an dieser Behauptung einiges nicht stimmt, dürften sogar Laien wissen. Gut, Kagawa geht, die Taktik der Dortmunder wird sich ändern müssen. Zwar bekommen sie mit Marco Reus einen echten und mit dem wiedergenesenen Mario Götze einen gefühlten Neuzugang, allerdings haben die beiden eine andere Spielanlage als Kagawa, der bei ManU nun sein Glück versuchen wird. Kagawa kann sich mit dem Ball am Fuß in nullkommanichts um sich selbst drehen, und weil die Gegenspieler die Bewegung mitmachen, schafft er sich so den Raum, den er braucht, um das Spiel schnell zu machen. Götze dagegen ist ein Meister des Dribblings und des Doppelpasses, der es liebt, wenn die Räume eng sind; und Reus kann, den Ball führend, in vollem Lauf gleich mehrere Gegenspieler stehen lassen. Dabei legt er den Ball meist vorbei und sprintet dann hinterher, was oft erst vor dem Tor des Gegners endet. Und fast so oft mit einem Treffer.
Keiner der beiden strahlt jene Genialität aus, wie sie dem Japaner innewohnt, zu fein ist dessen Technik, zu wendig sind seine Bewegungen. Kagawa ist für den BVB nicht eins zu eins zu ersetzen, und dennoch ergeben sich für das Offensivspiel des Deutschen Meisters nun mehrere Optionen. Kein Gegner kann es sich erlauben, Reus oder Götze unbewacht zu lassen, mitunter ziehen beide sogar mehr als nur einen Gegenspieler auf sich. Das könnte die größte Trumpfkarte der Dortmunder werden in der kommenden Saison, weil sich aus dem Spiel heraus, trotz aller taktischen Vorgaben, Überraschungsmomente ergeben. Noch mehr Überraschungsmomente als in der zurückliegenden Spielzeit, als Ilkay Gündogan und Sebastian Kehl auch immer wieder vor dem fremden Tor auftauchten und dort für Wirbel sorgten. Über die Außen werden weiter Jakub Blaszczykowski, Lukas Pisczcek Piszczek und mit Abstrichen Marcel Schmelzer den Gegner unter Druck setzen. Und dann gibt es da noch Robert Lewandowski, den so vielseitigen Stürmer, und Ivan Perisic, der schon in der Rückrunde 2011/12 mehr und mehr Einsätze bekommen hat. Kämpfernatur Großkreutz ist in dieser Aufzählung noch nicht einmal berücksichtigt.
Ein taktisches Korsett mit vielen Freiheiten
Der unbestreitbare Vorteil der Borussia ist, dass Spieler wie Götze, Perisic, Reus und zur Not auch Gündogan so variabel sind und so kreativ spielen, dass das Angriffsspiel der Klopp-Elf vermutlich noch unberechenbarer wird. Genau darin dürfte die Taktik des Trainers liegen. Offensivpressing, Ballgewinn, schneller Abschluss einerseits; bei eigenem Spielaufbau eine permanente Rotation der Angriffsabteilung und ein Mittelstürmer, der bewiesen hat, dass er selbst schwierigste Bälle, die er direkt aus der Abwehrreihe um Mats Hummels erhält, unter Kontrolle und zum Mitspieler bringen kann. Und: Torgefährlichkeit ist in Dortmund ein Wort, das nicht nur Angreifer und offensive Mittelfeldspieler kennen.
Sollte es den Dortmundern gelingen, den Klopp’schen Willen umzusetzen, werden es viele Gegner in der Liga abermals schwer haben. Zu welcher Platzierung das am Ende reichen wird, steht zwar auf einem anderen Blatt, als nahezu gesichert darf jedoch gelten, dass der ästhetische Fußball, den der Trainer sehen will, auch im kommenden Jahr geboten werden wird. Es mutet vielleicht wie ein Paradoxon an, ist in Dortmund aber in den vergangenen Jahren schon real geworden – taktische Vorgaben des Trainers werden mit so viel Bewegungsfreiheit ausgestattet, dass kreatives Chaos entstehen kann. Und Jürgen Klopp allerdings wird stinksauer, wenn er sieht, dass seine Spieler diese Freiheiten überstrapazieren, denn dann greift seine Taktik nicht mehr. Und das Spiel der Borussia kommt zum Erliegen.