Unberechenbar und schnell: Deutschlands Totaler Fußball
Wenn es überhaupt Grund zur Kritik gab beim Länderspiel gegen die Niederlande, dann die, dass das Ergebnis von 3:0 den Spielverlauf nicht wirklich widerspiegelte. Den vom Nachbarn ersonnenen „Totaal Voetball“ beherrschen die Deutschen nämlich inzwischen so gut wie perfekt.
Oranje, das ist der allgemein gültige Spitzname für das niederländische Nationalteam, Oranje also hätte sich nicht beschweren können, hätte es am Ende 4:0 oder 5:0 für die deutsche Mannschaft gestanden. Die Elftal – ein weiteres Synonym für Oranje – war gut bedient mit den drei Gegentoren, an denen Miroslav Klose drei Mal direkt beteiligt war. Das 1:0 legte er mustergültig auf für Thomas Müller, das 2:0 köpfte er selbst, nach Flanke von Mesut Özil. Klose revanchierte sich beim 3:0, als er mit Müller und Özil innerhalb von Sekundenbruchteilen Katz und Maus mit der holländischen Abwehr spielte – in deren Fünfmeterraum. Und indem er Özil uneigennützig mit einem finalen Querpass bediente, so dass der Real-Spieler nur noch einzuschieben brauchte. Es war das schönste Tor des Abends.
Dass man Klose, den 33-jährigen Stürmer von Lazio Rom, an diesem Abend so hervorheben musste, hatte aber noch einen anderen Grund. Denn er verkörperte in Hamburg den Prototypen eines Angreifers, wie der Bundestrainer Joachim Löw ihn sich wohl vorstellt. Klose war praktisch überall unterwegs in der gegnerischen Hälfte, holte sich die Bälle aber auch in der eigenen Hälfte und half schon mal in der Defensive aus, obwohl das eigentlich gar nicht notwendig war an diesem Abend. Kurz gesagt: Miro Klose ist zu einem Spieler geworden, der das Prinzip des „Voetball Totaal“, oder sagen wir ruhig auf Deutsch Totaler Fußball dazu, verinnerlicht hat.
Die Spielkultur von den einzelnen Spielern gelöst
Es scheint Löws Maxime zu sein, diese taktische Spielart von seinen Spielern umgesetzt sehen zu wollen. Diese Spielart bedeutet nichts anderes, als dass jeder Spieler auf dem Feld quasi alles können muss, und Klose war neben Thomas Müller und Sami Khedira nicht der Einzige, der sich das zu Herzen nahm. Klose war überall, spielte defensiv, wenn er musste, Müller war praktisch überall auf dem Feld zu finden, Khedira auch, genauso wie Özil, Toni Kroos, Jerome Boateng, Dennis Aogo und mit Abstrichen Lukas Podolski. Dass nur die Innenverteidiger Per Mertesacker und Holger Badstuber (sowie Torwart Manuel Neuer) zumeist auf ihren angestammten Positionen ganz hinten verweilten, war wohl auch eine Lehre aus den drei Gegentoren, die die Nationalmannschaft vier Tage zuvor beim 3:3 in Kiew gegen die Ukraine gezogen hat.
Ansonsten wirkte das Spiel der Deutschen gegen teils völlig überforderte Niederländer so, als könnte der Bundestrainer die Positionen auch wild durcheinandermischen – und das Spiel wäre trotzdem genauso gelaufen und ausgegangen. Es ist sicher Löws größtes Verdienst, die Spielkultur von einzelnen Spielern gelöst zu haben, oder anders gesagt: Es fällt gar nicht auf, wenn Top-Spieler wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger oder Mario Gomez nicht auf dem Platz stehen. Dass etwa Boateng, wenn er auf der rechten Seite nach vorn marschiert, ebenfalls gefährlich wird und im Zusammenspiel mit Müller, der sich dann etwas fallen lässt, jede Abwehr vor Probleme stellt, ist nur ein Indiz des Totalen Fußballs, wie Joachim Löw ihn von seiner Mannschaft sehen möchte. Die Holländer jedenfalls waren baff, wie ihnen ihre eigene Erfindung von den Deutschen, ausgerechnet von den Deutschen, um die Ohren gehauen wurde.
Fast jeder Spieler soll fast alles können, und fast jeder Spieler kann alles
Besonders gut zu beobachten war die Umsetzung der taktischen Vorgabe an jenem Abend in Hamburg jedoch im Mittelfeld. Mit Kroos und Khedira hatte Löw nominell zwei Sechser aufgeboten, von denen normalerweise Toni Kroos den offensiveren Part einnimmt – womöglich waren die Niederländer davon überrascht, dass es vielmehr Khedira war, der des Öfteren den Weg in die Spitze suchte. Um nach wenigen Minuten festzustellen, dass daraus kein Prinzip abgeleitet wurde seitens der Deutschen, denn auch Kroos ging mit, und schon fiel das 1:0 nach dessen Flanke auf Klose. Dann wiederum tankte sich Khedira durch, und schließlich gab es auch noch Özil, der praktisch überall war, was man von ihm eigentlich schon kennt. Beim 4:1 gegen England im WM-Achtelfinale war er am eigenen Strafraum und startete durch, um Müller das vierte deutsche Tor aufzulegen. Gegen Argentinien im Viertelfinale war es ähnlich. Özil sprintete von der Sechser-Position zum argentinischen Strafraum, um Klose das 4:0 zu ermöglichen. Es ist die Unberechenbarkeit, die das deutsche Spiel so deutlich abhebt vom Spiel anderer Nationalmannschaften, vom Tempo ganz zu schweigen.
Wenn es auch nicht ganz der „Totaal Voetball“ ist, den man von den Holländern um Johan Cruyff aus den 70er Jahren kennt, so ist das, was Löw der Mannschaft taktisch vorschreibt, zumindest eine Spielart davon. Fast jeder Spieler soll fast alles können, fast jeder Spieler kann alles – und besinnt sich dennoch darauf, was er am besten kann. Wenn Löw die Leichtigkeit aus dem Holland-Spiel ins kommende Jahr hinüberretten kann, dann ist der deutschen Nationalmannschaft neben der seit 2006 galoppierenden spielerischen Weiterentwicklung auch mal wieder ein Titel zuzutrauen. Mal sehen, was die Spanier dem deutschen Totalen Fußball entgegensetzen.