Die EM 2016 – eine taktische Zusammenfassung

Bei großen Fußballturnieren glänzt selten ein Trainer damit, ein neues taktisches System zu etablieren. Es lässt sich allerdings gut beobachten, welche Trends im Hinblick auf die Taktik gerade aktuell sind. So war auch bei der Europameisterschaft 2016 zu sehen, wie die besten Teams Europas derzeit Fußball spielen.

Die Auswirkungen des neuen EM-Modus auf die Taktik

Die EURO 2016 war die erste, an der 24 Mannschaften teilnahmen. Dementsprechend musste der Modus geändert werden: Es kamen nicht mehr nur die besten zwei Teams aus jeder der acht Vorrundengruppen in die nächste Runde, sondern auch die besten vier Mannschaften, die in ihrer Gruppe den dritten Platz belegten. Durch diese Regelung ergab sich auch für potentiell schwächere Teams die Möglichkeit, ins Achtelfinale einzuziehen, ohne zu den beiden punktbesten Mannschaften zu gehören. Dies hatte durchaus auch Auswirkungen auf die Taktik, mit der diese kleineren Teams spielten. Häufig kam es nämlich vor, dass sie extrem defensiv eingestellt waren. Ihr Ziel war es, zumindest ein Unentschieden zu erreichen und möglicherweise durch einen Konter ein Tor zu erzielen. Wegen dieser taktischen Ausrichtung bekamen die Zuschauer öfter recht zähe und unansehnliche Abwehrschlachten zu sehen, bei denen – wenn überhaupt – erst in der Schlussphase Tore fielen.

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Ein neuer statistischer Wert: Das Packing

Während der EURO 2016 setzte die ARD bei ihren Analysen erstmals einen relativ neuen statistischen Wert ein: das „Packing“. Damit wird die Anzahl der Gegenspieler gemessen, die mit einem Pass überspielt werden. Entwickelt wurde das Prinzip des Packings bzw. das Erfassen der Packing-Werte von den ehemaligen Bundesliga-Profis Stefan Reinartz und Jens Hegeler. Diese stellten fest, dass die üblichen statistischen Werte, die während eines Fußballspiels gesammelt werden, nur wenig Aufschluss darüber geben, welche der beiden gegnerischen Mannschaften effizienter vorgeht. Also machten sie sich Gedanken darüber, was analysiert werden müsse, um zu erkennen, welches Team tatsächlich überlegen sei – und kamen darauf, dass es im Fußball vor allem um das Ausschalten von Gegenspielern geht. Ein kluger Pass, der so viele Gegner wie möglich überspielt, also handlungsunfähig macht, ist demnach das beste Mittel, um sich in eine aussichtsreiche Angriffsposition zu bringen. Zum Packing zählt aber auch ein erfolgreiches Dribbling, bei dem einer oder mehrere Gegenspieler stehengelassen werden. Ein besonderes Augenmerk fällt beim Packing auf die Verteidiger, die überspielt werden, da sie die letzte Absicherung vor dem Tor bilden. Werden also viele Verteidiger durch Packing aus dem Spiel genommen, dann bringt der Pass oder das Dribbling mit ziemlicher Sicherheit eine Torchance mit sich. Entsprechend unterteilte die ARD bei ihren Spielanalysen während der EURO die Werte für das Packing, und zwar in das Packing aller gegnerischen Spieler und das Packing von Verteidigern.

Spielstarke Außenverteidiger

Zum Packing können auch die Außenverteidiger ihren Anteil leisten – vor allem, wenn sie besonders spielintelligent sind. Denn längst geht es für Außenverteidiger nicht mehr darum, gegnerischen Außenläufern den Laufweg zu versperren und Flanken zu verhindern. Vielmehr sind die defensiven Außen guter Mannschaften dazu in der Lage, sich selbst in Angriffe einzuschalten und so Druck auf die Abwehr auszuüben. Vor allem wenn der Gegner sehr defensiv eingestellt ist, ist dies ein probates taktisches Mittel, um ein Übergewicht im Angriff zu erlangen. Der deutsche Trainer Jogi Löw wendete es beispielsweise an, als er ab dem dritten Turnierspiel Joshua Kimmich auf die rechte Außenbahn stellte. Auch Teams wie die Spanier und die Franzosen verfügen über spielstarke Außenverteidiger, die ihr Spiel noch variabler machen. Und weil die Läufer auf der Außenbahn nicht nur gezielt passen können, sondern auch dribbelstark sein müssen, leisten sie ihrer Mannschaft auch in Sachen Packing gute Dienste.

Der defensive Mittelfeldspieler als Libero

Bei der EURO 2016 war es häufig zu beobachten, dass sich ein defensiver Mittelfeldspieler bei der Spieleröffnung sehr weit nach hinten fallen lässt. Dort nimmt er eine Position auf Höhe der Innen- und der Außenverteidiger ein und kann von dort aus – je nach Qualität und Spielanlage – lange Bälle nach vorne spielen oder sich durch das gegnerische Mittelfeld dribbeln und so seine Werte im Packing erhöhen. In Perfektion spielte der deutsche Mittelfeldregisseur Toni Kroos diese Variante aus, als er sich im Spielaufbau häufig zwischen den linken Außenverteidiger und die Innenverteidigung zurückzog. Mit einem langen Ball hatte er so die Möglichkeit, im Sinne des Packings so viele Gegenspieler wie möglich auszuschalten – wie ihm dies im ersten Gruppenspiel gegen die Ukraine gelang, als er mit einem Pass die gesamte gegnerische Mannschaft überspielte und Sami Khedira daraufhin unbedrängt zum Torschuss kam. Durch dieses eine Zuspiel sammelte Kroos beim Packing den Wert 10.

Die Taktik des Europameisters

In der ersten Hälfte des Turniers gehörte die portugiesische Nationalmannschaft noch zu den Enttäuschungen: Gegen Island kam sie nicht über ein 1:1 hinaus, biss sich anschließend an der österreichischen Verteidigung die Zähne aus und kassierte gegen Ungarn gleich drei Gegentore. Auffällig war dabei vor allem, wie sehr das Spiel der Portugiesen auf ihren Superstar Cristiano Ronaldo ausgelegt war. Denn obwohl das Team nur drei Punkte in der Vorrunde gesammelt hatte, hatte es mit Abstand am häufigsten aufs gegnerische Tor geschossen. Und die meisten portugiesischen Torabschlüsse verbuchte Ronaldo, der oft auch aus Positionen den Abschluss suchte, aus denen ein Torerfolg recht unwahrscheinlich war. Gleiches galt im Übrigen für seine Freistöße, von denen er im Verlaufe des Turniers nicht einen einzigen versenken konnte. Dennoch stellte Ronaldo einen enorm wichtigen Spieler im portugiesischen System dar, weil er gleich mehrere Gegner an sich band und damit Räume für seine Teamkollegen freimachte. Den EM-Titel errang Portugal aber vor allem in der Defensive. Mit enger Manndeckung und einem tiefstehenden Mittelfeld wurden dabei die gegnerischen Angriffe konsequent unterbunden. Zudem gelang es Trainer Fernando Santos, flexibel auf wechselnde Umstände im Spiel zu reagieren. So stellte er nach dem Ausfall von Ronaldo im Endspiel gegen Frankreich von 4-4-2 auf 4-3-3 um, wofür er den eigentlichen Mittelfeldspieler Nani in die Spitze schickte. So konnte seine Mannschaft gegen die Franzosen bestehen und letztlich den Sieg erringen.

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Die taktischen Varianten der deutschen Nationalmannschaft

Bundestrainer Jogi Löw setzte in allen sechs Spielen, die das deutsche Team bei der EURO absolvierte, auf die gleiche taktische Formation – bis auf eins. Ins Turnier startete Deutschland mit einem 4-5-1-System, wobei das defensive Mittelfeld von einer Doppelsechs besetzt wurde. Eine besondere Bedeutung für diese Ausrichtung hatte dabei der Innenverteidiger Jérôme Boateng, der mit seinen langen Pässen nach vorne immer wieder als Spielmacher glänzte und seine Werte in Sachen Packing nach oben trieb. Neben Toni Kroos, dem passsichersten Spieler der deutschen Mannschaft, der obendrein den besten Wert beim Packing aufwies, ergab sich so eine weitere Möglichkeit der Spieleröffnung. Das einzige Mal, dass das deutsche Team von seiner Taktik abwich, mit einer Viererkette in der Defensive aufzulaufen, war das Viertelfinale gegen Italien. Dafür stellte Löw seine Abwehrformation auf eine Fünferkette um: Neben Boateng und Mats Hummels machte mit Benedikt Höwedes ein dritter Innenverteidiger das Zentrum vor dem deutschen Tor zu, die Außenbahnen wurden von den technisch versierten Stammkräften Jonas Hector und Joshua Kimmich besetzt. Um einen zusätzlichen Mann in der Defensive zu haben, opferte Löw einen Spieler im defensiven Mittelfeld und zog Toni Kroos weiter nach vorne. Auch wenn Kroos auf dieser Position nicht so gut zurechtkam wie auf seiner gewohnten und einen geringeren Wert beim Packing aufwies, zahlte sich die taktische Variante aus. Denn auch wenn sich der Bundestrainer wegen seiner Umstellung auch Kritik ausgesetzt sah, gab ihm das Resultat letztlich recht: Deutschland besiegte Italien im Elfmeterschießen.

Der deutsche Ballbesitz-Fußball

Die meisten der Stammspieler, mit denen die deutsche Nationalmannschaft bei der EURO 2016 antrat, stehen beim FC Bayern München unter Vertrag. Dort genossen sie in den vorangegangenen drei Jahren das Training von Pep Guardiola – und der ist bekannt dafür, seine Teams mit hohen Ballbesitzwerten spielen zu lassen. Gleiches galt bei der Europameisterschaft auch für das deutsche Team. Mit durchschnittlich 63 Prozent war die DFB-Elf die Mannschaft mit dem meisten Ballbesitz unter allen Teilnehmern. Den höchsten Wert erreichte sie in der Vorrundenpartie gegen Nordirland, als Deutschland einen Ballbesitzanteil von 71 Prozent vorweisen konnte. Zum Titel reichte die weitestgehende Beherrschung des Spielgeräts allerdings nicht: Zwar kassierte Deutschland in sechs EM-Partien nur einen einzigen Treffer aus dem Spiel heraus, ließ aber mit sieben eigenen Toren auch die Durchschlagskraft im gegnerischen Strafraum vermissen.

Deutschland mit und ohne Stürmer

Bei der WM 2014 gehörte es zwar auch zu den großen Geschichten, dass Miroslav Klose im Alter von 36 Jahren zu zwei Treffern kam und nun ewiger WM-Torschützenkönig ist, allerdings verzichtete Jogi Löw auch in den ersten vier Partien des Turniers auf seinen einzigen gelernten Stürmer und ließ stattdessen nominelle Mittelfeldspieler wie Mesut Özil oder Thomas Müller in der Spitze auflaufen. Ebenso stellte der Bundestrainer auch in den ersten beiden Spielen bei der EURO 2016 auf. Er ließ seinen Stürmer Mario Gomez auf der Bank und nahm Mario Götze in die Startformation auf. Erst als Götze in den ersten beiden VorrundensRonaldo Bale dynamisch dehnenpielen unglücklich agierte und als Stürmer keine Durchschlagskraft entwickelte, wurde Mario Gomez zum Stammspieler – und bedankte sich mit zwei Turniertoren für diesen Schritt. Taktisch hatte diese Umstellung im deutschen System eine große Bedeutung, wandte sich Löw doch dadurch von seiner Prämisse ab, vor allem auf taktisch flexibel agierende Spieler zu setzen. Mit Mario Gomez brachte er stattdessen einen Akteur in die Mannschaft, der mit seiner wuchtigen Spielweise mehrere Gegenspieler binden kann und – wenn er nicht selbst trifft – Räume für seine Teamkollegen schafft. Wie sehr die deutsche Mannschaft auf diese taktische Maßgabe setzte, zeigte sich im Halbfinale gegen Frankreich, als Gomez verletzungsbedingt fehlte. Dort nämlich gelang es den Deutschen nicht, Lücken in der dicht stehenden französischen Abwehr aufzureißen und sich entscheidend durchzusetzen – was schließlich auch zur Niederlage und zum Ausscheiden führte.

Die Anzahl der Stürmer

Generell war die Anzahl der Stürmer, mit denen die Mannschaften bei der EURO 2016 aufliefen, ein großes Thema. Vor dem Turnier galt als gesetzt, dass die besten Mannschaften der Welt mit nur einem Stürmer spielen. Und bei dem muss es sich noch nicht einmal um einen Mittelstürmer der „alten Schule“ handeln, der unter Umständen technisch limitiert ist, aber durch Kraft, starkes Kopfballspiel und Treffsicherheit besticht. Bei der EM setzten allerdings einige Mannschaften genau diesen Spielertypen ein – unter anderem eben Mario Gomez bei Deutschland, aber auch Alvaro Morata bei Spanien oder Romelu Lukaku bei Belgien. Manche Teams, darunter Italien und Frankreich, überraschten sogar damit, dass sie gleich zwei Stürmer aufboten. Während einer von ihnen als klassischer Mittelstürmer auftrat, brachte sein Kollege die nötigen technischen Fähigkeiten mit, um auch mal einen gegnerischen Verteidiger auszuspielen. Das beste Beispiel für ein solches Duo waren die Franzosen Olivier Giroud und Antoine Griezmann, die gemeinsam auf neun EM-Tore kamen.

Die Tricks der Underdogs

Bedingt durch die Vergrößerung des Teilnehmerfeldes auf 24 Teams gab es einige Mannschaften bei der EURO, denen es bislang verwehrt geblieben war, sich auf der großen Fußballbühne zu präsentieren. Zu ihnen gehören unter anderem die Isländer, die in Frankreich einige Sympathien erlangen konnten. Sowohl die Mannschaft, die jedes Spiel mit unbändigem Einsatz anging, als auch die enthusiastischen Fans begeisterten die Beobachter aus ganz Europa. Das isländische Team hatte aber auch eine taktische Variante im Gepäck, mit der einige Gegner nicht gerechnet haben: einen besonders langen Einwurf. Dabei brachte Islands Kapitän Aron Gunnarsson den Ball so präzise in den Strafraum, als würde er eine Flanke spielen. Am besten gelang dies im Achtelfinale gegen England, als ein Einwurf von Gunnarsson als Vorarbeit zum 1:1-Ausgleich diente. Einen anderen Trick bei einer Standardsituation zeigte die walisische Mannschaft, die ebenfalls zu den Überraschungen der EURO gehörte. Als Wales im Viertelfinale gegen Belgien eine Ecke zugesprochen bekam, stellten sich vier Angreifer wie bei einer Polonaise am Elfmeterpunkt auf. Als der Ball dann in den Strafraum flog, verteilten sich die Waliser blitzschnell, irritierten dadurch ihre belgischen Bewacher und kamen durch einen Kopfball von Ashley Williams zum 1:1-Ausgleich.

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Was von der EURO 2016 aus taktischer Sicht bleibt

Wie eingangs erwähnt, sind große Turniere nicht dazu da, taktische Revolutionen hervorzurufen. Aus taktischer Sicht wird die EURO 2016 wohl am ehesten für die defensive Ausrichtung in Erinnerung bleiben, mit der viele der Mannschaften in die Partien gegangen sind. Selbst spielerisch starke Teams wie die beiden Finalisten Frankreich und Portugal verlegten sich zuweilen ausschließlich auf das Verteidigen. Eine taktische Variante, die durchaus Potential hat, sich durchzusetzen, ist allerdings der lange Einwurf der Isländer. Hat eine Mannschaft einen Spieler in ihren Reihen, der den Ball weit werfen kann, dann kann daraus eine sehr gute Tormöglichkeit kreiert werden. Interessant wird es zudem sein, zu sehen, inwiefern sich das Packing, das bei der EURO zum ersten Mal eingesetzt wurde, tatsächlich als brauchbares Analyseinstrument für taktische Maßnahmen herausstellen wird. Schließlich kann das Packing nicht nur bei Fernsehübertragungen sinnvoll sein, auch bei der taktischen Besprechung, die Trainer in der Halbzeitpause oder nach dem Spiel vornehmen, kann das Packing ein nützliches Instrument darstellen.

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