Wir brauchen Stoßstürmer – Hat die falsche Neun schon wieder ausgedient?
Falsche Neun?! Es ist die 109. Spielminute des Europameisterschaftsfinales zwischen Portugal und Frankreich, als Éderzito António Macedo Lopes, besser bekannt als Éder, mit seinem satten Rechtsschuss aus 25 Metern den goldenen Treffer des Abends erzielt und die Portugiesen zu ihrem ersten EM-Titel schießt. Dass ausgerechnet Éder, der bullige Stoßstürmer und lediglich portugiesische Edel-Joker, das entscheidende Tor der Europameisterschaft gelingt, passt irgendwie zu diesem Turnier. Neben grandiosen Fangesängen und mutig aufspielenden Underdogs bleibt Taktikverliebten vor allem die Renaissance des Strafraumstürmers in Erinnerung.
Die Renaissance des Strafraumstürmers
Galt der klassische „Neuner“ vor wenigen Jahren schon als ausgestorben, zeigten Gomez, Giroud & Co. spätestens bei der EM 2016 in Frankreich, dass moderne Stoßstürmer immer noch enorm wichtig für das Spiel der Top-Teams sein können. Die Diskussionen um eine falsche Neun oder doch lieber einer echten Spitze sind wieder entfacht bzw. 2017 aktueller denn je. Doch welches System wird langfristig Erfolg haben und wo liegen die Vor- und Nachteile dieser beiden Spielertypen? Dafür müssen die beiden Begriffe „falsche Neun“ und „Stoßstürmer“ zunächst klar voneinander abgegrenzt werden.
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Womit definiert sich die falsche Neun?
Die falsche Neun spielt in der Regel eine Art hängende Spitze in Spielsystemen ohne weitere Stürmer. Die Aufgabe der falschen Neun besteht darin, die Rolle des Stürmers mit der des Mittelfeldspielers zu vereinen. Häufig agiert sie zwischen der Angriffs- und Mittelfeldreihe und soll dabei sowohl Torchancen erarbeiten als auch selber zum Abschluss kommen. Gegen defensiv eingestellte Abwehrreihen lässt sich die falsche Neun zurückfallen und eröffnet dadurch anderen Spielern die Möglichkeit die Stürmerposition zu besetzen. Die vielen Positionswechsel sorgen somit für Überzahlsituationen im Mittelfeld und mehr Bewegung im Offensivspiel.
Was sind die typischen Eigenschaften einer falschen Neun?
Um die Anforderungen an seine Position bestmöglich zu erfüllen, sollte die falsche Neun ein Spieler sein, der seine Stärken vor allem im technischen Bereich, als auch in der Spielübersicht hat. Ein typischer Spielmacher, der genauso gut auch eiskalt vor dem Tor sein kann, stellt das Ideal der falschen Neun dar. Kleine, quirlige Spieler, die durch ihre Beweglichkeit immer wieder Unruhe im gegnerischen Sechszehner stiften, sind als falsche Neun exzellent geeignet.
Welche Teams spielen mit der falschen Neun?
Auch wenn der Begriff „falsche Neun“ seinen Durchbruch erst so richtig während der EM 2012 schaffte, als die spanische Nationalmannschaft mit Cesc Fabregas einen herkömmlichen Spielmacher als einzige Spitze aufstellte und damit den EM-Titel verteidigte, ist diese Spielweise schon immer eine Alternative zum Stoßstürmer gewesen. Der Ungar Nándor Hidegkuti verkörperte bereits in den 50er Jahren die Rolle einer falschen Neun. Nicht zuletzt war diese taktische Ausrichtung maßgeblich für den Erfolg der goldenen ungarischen Ära. Unter Pep Guardiola perfektionierte der FC Barcelona das 4-3-3 mit Weltstar Lionel Messi als falscher Neun.
Auch die deutsche Fußballnationalmannschaft lief zuletzt gegen tiefstehende Gegner immer wieder einmal mit Mario Götze als falscher Neun auf. Bei der Europameisterschaft in Frankreich ersetzte Bundestrainer Löw Götze ab dem dritten Gruppenspiel durch Mario Gomez. Als die deutsche Elf im Halbfinale gegen Frankreich notgedrungen auf den verletzten Stoßstürmer Gomez verzichten musste, fehlte es dem DFB-Team doch ohne echten Stürmer erneut an der nötigen Effektivität. Auch ZDF-Experte Oliver Kahn bemängelte dies: „Das Schlagwort ist Durchschlagskraft. Wir haben in der Vergangenheit über falsche Neunen und Spielertypen diskutiert, die für Kreativität stehen, nachdem Miro Klose aufgehört hat“, sagte der 47-Jährige. „Das Kernproblem aber ist doch: Warum haben wir aufgehört, diesen Spielertypen als wichtig zu empfinden?“
Wie unterscheiden sich die Eigenschaften und Aufgaben einer falschen Neun zu einem Stoßstürmer?
Während klassische Mittelstürmer sich vorrangig ins Zentrum orientieren und damit die Innenverteidiger an sich binden, löst sich ein falscher Neuner von seinen Gegenspielern und weicht häufig auf die Außenbahnen aus. Dadurch soll er einen kompakten Defensivverbund auseinanderziehen und sich gleichzeitig mit am Kombinationsspiel im Mittelfeld beteiligen. Im Gegensatz zur falschen Neun lauert der Stoßstürmer im Strafraum auf seine Torchancen. Körperlich starke Stoßstürmer sollen zudem tief in die Spitze gespielte Bälle sichern und diese gegen die Verteidiger solange behaupten, bis die eigenen Mitspieler nachgerückt sind.
Wie bildet man eine taktische Neun aus? Wie einen Stoßstürmer?
Der Trend zur falschen Neun in den letzten Jahren führte dazu, dass in der deutschen Nachwuchsförderung überwiegend auf die technische Ausbildung der Talente wertgelegt wurde. Allerdings mangelt es durch diese Entwicklung an deutschen Stoßstürmern auf Weltklasse-Niveau.
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Das kritisierte zuletzt auch Ex-Nationalspieler und Liverpool-Legende Dietmar Hamann in der Öffentlichkeit: „In der Jugendarbeit muss sich etwas ändern, du brauchst diesen Spielertypen. Aber die Problematik gibt es schon seit sechs bis acht Jahren, deshalb stand Miro Klose ja immer in der Startelf. In dieser Zeit haben wir nicht einen Mittel-Stürmer gefunden, der für die Nationalmannschaft in Frage kommt.“ Laut Hamann habe man sich zu sehr am spanischen Erfolgsfußball ohne „echte Neun“ fokussiert: „Dabei war das eine außergewöhnliche Mannschaft. Es war das einzige Mal in der Geschichte, dass ein Team ohne Mittelstürmer große Titel geholt hat.“
Auch wenn es schwer ist, einen Torinstinkt zu trainieren, sollten in Zukunft gerade Stoßstürmer und Torjäger intensiver gefördert werden. Dabei müssen talentierte Stoßstürmer heutzutage aber auch die Fähigkeiten einer falschen Neun erfüllen, um somit einen „formvollendeten Neuner“ darstellen zu können.
Wovon sollte man eine taktische Ausrichtung abhängig machen?
Grundsätzlich gilt: Die taktische Ausrichtung ist abhängig von den Stärken der eigenen Mannschaft, aber auch vom Spielsystem des Gegners. Eine kombinationssichere Mannschaft mit viel Ballbesitz, wie die spanische Nationalmannschaft oder der FC Barcelona, werden gegen sehr defensiv eingestellte Gegner öfters auf die falsche Neun zurückgreifen können. Hat man jedoch einen Spieler mit den Qualitäten eines Lewandowskis oder Girouds in den Reihen, sollte man nicht auf den Stoßstürmer verzichten. Vor allem hohe Bälle, die ein Stoßstürmer sichert oder selbst verwertet, stellen dann eine echte Alternative dar.
Der größte Vorteil der falschen Neun, die verstärkte Bewegung im Offensivspiel, kann jedoch schnell zum Problem werden. Die komplexen Laufwege und die intensiven Abstimmungen setzen ein aufwändiges Training voraus. Folglich sind Systeme mit einer falschen Neun fast ausschließlich im Profi-Bereich umsetzbar.
Welches Spielsystem wird momentan bevorzugt?
Spätestens seit der Europameisterschaft in Frankreich tendiert der Weltfußball wieder mehr zum Stoßstürmer, als zur falschen Neun. Selbst Vicente del Bosque, Erfolgstrainer der spanischen Nationalmannschaft, setzte bei der EM mit Alvaro Morata zuletzt wieder auf einen stämmigen Mittel-Stürmer. Auch in den großen Nationen Deutschland und Frankreich standen mit Giroud und Gomez klassische Stoßstürmer in der Startelf. Eine derzeit beliebte Alternative stellt besonders der Doppelsturm da. Die Kombination eines Stoßstürmers mit einer hängenden Spitze war vor allem bei der italienischen Nationalmannschaft (Eder und Pelle) aber auch auf Vereinsebene bei Atlético Madrid (Griezmann und Torres) durchaus erfolgreich.
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Welche taktische Ausrichtung wird sich langfristig durchsetzen?
Sowohl der Stoßstürmer als auch die falsche Neun werden in verschiedenen Spielsystemen ihre Berechtigung finden. Es wird darauf ankommen, die jeweilige taktische Ausrichtung optimal an die Fähigkeiten des eigenen Teams anzupassen. Außerdem werden auch die Anforderungen an den klassischen Stoßstürmer weiterwachsen. Räume schaffen für Mitspieler und Bälle verteilen, klingt eher nach Aufgaben der falschen Neun, wird aber auch für den Mittelstürmer immer wichtiger. Die Position des Stürmers wird sich in Zukunft weiterentwickeln. Der perfekte Stürmer wird die Fähigkeiten der falschen Neun und des Stoßstürmers vereinen. Nicht zu vernachlässigen bleibt auch die Doppelspitze, welche sich in letzter Zeit immer größerer Beliebtheit erfreut. Das Zusammenspiel eines typischen Stoßstürmers mit einem spielstarken zweiten Stürmer bietet die Vorteile beider Stürmertypen in einem Spielsystem.
Übrigens: Von Philip Kerr gibt es sogar einen Roman mit dem Titel „Die falsche Neun, besser gesagt einen echten Fußball-Thriller. In diesem beschreibt Kerr – wie auch in einigen anderen seiner Büchern – den fiktiven Fußballtrainer Scott Manson und wie dieser mittendrin im Sumpf des korrupten Spitzensports landet, in der unter anderem Starstürmer Jérôme Dumas verschwindet…
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Bildquelle: Natursports / Shutterstock.com
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