Spielszene TAKTIKCHECK | England vs. Deutschland 2:0 | 1vs1- König Sterling stresst deutsche Abwehrkette

Die Szene des Spiels:

Der englische Offensivspieler Raheem Sterling dribbelt mit Tempo in den freien Raum, bindet mehrere Gegenspieler und verdichtet damit die Feldmitte. In der schnellen Raumveränderung muss die deutsche Abwehrkette verschieben, was zum Freiraum auf der linken Außenbahn führt – der Rest ist bereits Geschichte… Der folgende Artikel nimmt diese entscheidende Spielszene taktisch unter die Lupe, erklärt die fachlichen Zusammenhänge und gibt Anregungen/Tipps für das eigene taktische Spielsystem

Von dem Klassiker England gegen Deutschland versprachen sich viele Fußballfans einiges an Unterhaltung – zum einen, weil die Begegnung im Mutterland des Fußballes im Wembley-Stadion ausgetragen wurde, zum anderen, weil das EM-Spiel in der K.o.-Runde stattfand. Obendrein brachten beide Teams, insbesondere England, enorm viel Qualität in den vordersten Reihen mit. Es wäre demnach nicht komplett abwegig gewesen, sich von dem Aufeinandertreffen ein Offensivspektakel zu erhoffen.

England gegen Deutschland – beide Teams mit wenig Risiko

Wer die drei Gruppenspiele der Engländer jedoch etwas verfolgt hat, sollte auch Gareth Southgates bisherige Spielphilosophie „saftey first“ kennen. Dieses Motto galt in der Begegnung zwischen den beiden Fußballgrößen aber nicht nur für das Team von Southgate. Neben den „Three Lions“ war auch die deutsche Elf sehr stark auf das Minimieren, anstatt das Suchen von Risiko ausgerichtet.

Chancenarme erste Hälfte

Die defensiven Grundausrichtungen mit jeweils zwei Fünferketten in der Abwehr, sowie die Fehlervermeidungsspielweise vieler Spieler spiegelte sich dann auch im Verlauf der Partie wider. Wirklich gefährlich wurde es selten. Einmal schickte Havertz seinen Vereinsmitspieler Timo Werner in die Tiefe. Dieser scheiterte dann aber aus kurzer Distanz am englischen Schlussmann Pickford.

Kurz vor dem Pausenpfiff wurde es dann mal brenzlig im deutschen Strafraum. Kane, der frei vor Neuer stand, legte sich den Ball jedoch etwas zu weit vor. Dadurch konnte Hummels die Situation mit einer Grätsche gerade noch bereinigen. Das waren dann aber auch schon die einzigen Großchancen im ersten Durchgang.

Wenig Veränderung im zweiten Durchgang

In der 2. Hälfte nahm die Spannung und die Torgefahr dann ein klein wenig zu – auch weil die beiden Teams anfingen, Fehler zu machen. Müller und Sterling spielten jeweils einen groben Fehlpass, der zu einer Großchance auf jeder Seite führte.

Eine Szene entscheidet das EM-Spiel zwischen England und Deutschland

Wie so oft werden solche Spiele, die vor allem von der Arbeit gegen den Ball geprägt sind, durch eine einzige Szene entschieden. Zwischen den beiden Torchancen, die durch die Fehlpässe von Sterling und Müller verursacht wurden, fiel das 1:0 für die Engländer.

Einen sehr großen Anteil an dem Treffer hat der dribbelstarke Torschütze Raheem Sterling selbst. Dieser leitet die Szenen durch ein Dribbling ein und verwertet die flache Hereingabe dann selbst.

Das 1:0 | Sterlings 1vs1-Qualität verschiebt deutsche Defensivkette

Die Spielsituation beginnt mit einem abgebrochenen Angriff über die linke Seite. Maguire hat einen Rückpass aus dem Mittelfeld erhalten. Der rechte Halbraumverteidiger Kyler Walker erkennt den freien Raum auf seiner Seite und signalisiert mit gehobenen und ausgestreckten Armen, dass Maguire den Ball zu ihm spielen soll. Daraufhin spielt Magiure auch den Pass zu Walker.

  • Wenn Raum vorhanden ist, muss es schnell gehen.

Um den freien Raum auf der rechten Seite nutzen zu können, macht Walker das Spiel schnell. Der Verteidiger von Manchester City nimmt den Ball mit dem rechten Außenspann direkt in die Bewegung mit und spielt den Ball sofort in den Halbraum zu Sterling (Dieser ist auf der Abbildung nicht im Bild).

  • Sofort in die Spielrichtung aufdrehen, wenn sich der Raum bietet.

Rüdiger schiebt aus der Fünferkette raus, um Sterling zu stellen. Jedoch ist der Abstand zwischen den Beiden zu groß, um ein Aufdrehen von Sterling zu unterbinden.

Es ist nicht zu erkennen beziehungsweise zu hören, ob Sterling sich vor dem Aufdrehen vororientiert hat oder ein Kommando eines Mitspielers erhalten hat. Im Idealfall ist beides passiert.

  • Sterling nutzt seinen explosiven Antritt & bindet Gegenspieler.

Nachdem Sterling aufgedreht hat, sind gleich 3 Gegenspieler in seiner Nähe – Rüdiger, der zurückeilende Müller und Kroos. Kross rückt jedoch leicht nach vorne, um auf einen Rückpass von Sterling zu lauern. Dadurch entsteht ein Weg in den freien Raum im Zentrum, in welchen Sterling startet.

Bei dem Dribbling in den freien Raum profitiert Sterling enorm von seinem explosiven Antritt. Der englische Außenstürmer kann seine Gegenspieler mit drei, vier schnellen, aber engen Ballkontakten kurzzeitig abhängen und zusätzlich auch noch Goretzka binden.

  • Feldmitte verdichtet sich und Raum auf der Außenbahn entsteht.

Nach seinem kurzen Antritt spielt Sterling einen Pass zum Mittelstürmer Kane. Dadurch rücken der Außenverteidiger Kimmich und der Halbraumverteidiger Ginter weiter in die Feldmitte ein. Folglich entsteht mehr Raum auf der Außenbahn.

Sowohl Ginter als auch Hummels agieren sehr vorsichtig mit Kane. Beiden setzen Kane nicht wirklich unter Druck, um keinen Durchbruch des Stürmers oder ein Foulspiel in Tornähe zu riskieren. Dies gibt Kane jedoch die notwendige Zeit, um aufzudrehen und den Ball weiter zu Grealish zu spielen.

Trotz der klaren Überzahl in der Nähe des Balles agiert Deutschland recht passiv – Hummels hält großen Abstand zu Kane und auch Grealish wird in der Folge nur gestellt, aber nicht wirklich unter Druck gesetzt.

  • Grealish verzögert und bedient die Außenbahn.

Grealish erkennt sofort, dass die Außenbahn bespielbar ist. Aber anstatt den Ball mit dem 2. Kontakt auf Shaw weiterzuspielen, nimmt Grealish den Ball nochmal nach innen mit. Dadurch orientiert sich auch Kimmich nochmal kurzzeitig in Richtung Zentrum. Anschließend folgt ein Abspiel in den Lauf von Shaw, welcher genug Freiraum für eine Hereingabe hat.

  • Sterling schleicht sich geschickt in die Lücke der Verteidiger.

Shaw kann den Pass in die Bewegung direkt und scharf vors Tor spielen. Kane lauert am 2. Pfosten, im Rücken von Hummels, und Sterling bewegt sich clever in den Raum zwischen Hummels und Ginter. Das flache Zuspiel von Shaw kann Sterling dann auch direkt im Tor unterbringen.

Sterling macht den Unterschied

Ein sehr entscheidender Faktor im englischen Offensivspiel war Raheem Sterling. Der dribbelstarke Spieler von Manchester City war ein Kontrast zu der Ausrichtung der beiden Teams – Sterling suchte häufig das Risiko, und zwar vor allem in Form von 1-gegen-1-Situationen.

Dies sorgte, wie auch beim 1:0, einige Male für Unordnung in der deutschen Hintermannschaft. Der quirlige Flügelstürmer zog mit seiner engen Ballführung und seinem explosiven Antritt viele Gegenspieler auf sich und verschaffte seinen Mitspielern damit Räume – Räume, welche in dieser Begegnung zwischen England und Deutschland sehr rar waren.

Fazit

In dieser Partie wäre es natürlich auch möglich gewesen, einen Verteidiger der „Three Lions“ hervorzuheben. Immerhin hat die englische Auswahl im kompletten Turnierverlauf noch kein einziges Gegentor kassiert – auch dank Defensivspezialisten wie Maguire, Walker oder Stones.

Jedoch beruht die defensive Stabilität nicht nur auf den guten, englischen Verteidigern, sondern auch auf der sicherheitsbetonten Ausrichtung von Trainer Southgate.

Diese ist zwar nicht besonders anschaulich aber durchaus sehr effizient – besonders dann, wenn die wenigen Offensivspieler so viel Qualität mitbringen. Es ist also durchaus kein Mangel an Mut, den Fokus so stark auf die Defensive zu legen. Vielmehr ist es ein Privileg, das durch die individuelle Klasse im englischen Angriff entsteht.

Autor: Luis Österlein