Anstoßvarianten als taktisches Mittel
Der Anstoß – ein oft unscheinbarer Beginn eines Spiels oder einer Halbzeit – birgt enormes taktisches Potenzial. In der Fußballgeschichte gibt es immer wieder Momente, in denen Teams durch clever einstudierte Anstoßvarianten nicht nur überraschen, sondern auch blitzschnell zu Torerfolgen kommen. Dieser Artikel beleuchtet drei herausragende Beispiele für Anstoßtaktiken, die sowohl Fans als auch Gegner in Staunen versetzt haben: das spektakuläre Anstoßtor von Florian Wirtz im Länderspiel zwischen Deutschland und Frankreich, Kylian Mbappés beeindruckender Treffer nach wenigen Sekunden Bei PSG, sowie eine raffinierte Variante des AC Como im letzten Duell gegen Lazio Rom. Gemeinsam zeigen sie, wie ein perfekter Plan das Spiel innerhalb von Sekunden auf den Kopf stellen kann.
Warum Anstoßvarianten?
Anstöße sind eine faszinierende taktische Komponente des Fußballs, weil sie ein einzigartiges Spielfeldszenario bieten: Alle Spieler stehen auf ihren Positionen, und die ausführende Mannschaft hat die volle Kontrolle über den ersten Spielzug. Dieser Moment bietet die seltene Gelegenheit, das Tempo des Spiels zu diktieren, den Gegner zu überraschen und gezielt Schwachstellen auszunutzen. Dennoch wird dieses Potenzial in der Praxis oft unterschätzt. Viele Teams beschränken sich auf einfache Rückpässe, um den Ball in die eigenen Reihen zu bringen, statt gezielte, kreative Varianten zu trainieren. Der Grund dafür liegt häufig in den begrenzten Trainingszeiten und der Priorisierung anderer Spielsituationen wie Standards oder Pressing. Dabei zeigen Beispiele wie die spektakulären Anstoßtore von Wirtz oder Mbappé, dass ein durchdachter Anstoß nicht nur effektiv, sondern auch spielentscheidend sein kann. Auch für auf dem Papier schlechtere Mannschaften bietet dies ein enormes Potential gegen bessere Mannschaften, um eventuell direkt in Führung gehen zu können.
Deutschland vs. Frankreich
Vor der Heim-EM 2024 testete die Nationalmannschaft am 23.03.2024 gegen den Vize-Weltmeister Frankreich in Lyon. Dabei konnte die DFB-Elf mit 2:0 gewinnen und bereits in der ersten Minute direkt nach dem Anstoß in Führung gehen. Die Partie, geprägt von hoher Intensität und taktischem Anspruch, begann mit einer Überraschung: Direkt nach dem Anpfiff kombinierte die deutsche Mannschaft blitzschnell und nutzte den Moment der Unordnung in der französischen Defensive aus. „War das einstudiert oder einfach gut gespielt?“ werden sich nun einige von euch fragen. So eine Variante ist klar ausgetüftelt und findet im Training zumindest einen kurzen Teil, um die Variante zu üben. Jetzt schauen wir uns den Ablauf des Anstoßes mal genauer an.
Die Ausgangssituation sieht wie folgt aus: Deutschland hat den Anstoß zur Eröffnung des Spiels. Frankreich steh gegenüber in einem klassischen 4-3-3. Die Angriffsreihe besteht dabei aus 3 Stürmern, im Mittelfeld agierten sie mit 2 8ern und einem 6er, dahinter die übliche Viererkette. Deutschland positioniert sich mit 5 Spielern an der Mittellinie: Musiala und Wirtz auf den Außenbahnen, Gündogan im Zentrum direkt neben dem Mittelkreis und Havertz und Kroos am Mittelpunkt um den Ball. Als möglicher Anspieler des Rückpasses ist Kimmich im Zentrum positioniert. Die Viererkette steht in ihrer normalen Aufstellung dahinter und spielt im Anschluss an die Szene keine entscheidende Rolle.
Nachdem Havertz den Anstoß kurz auf Kroos ausführte, sprinten die vier Spieler, die zuvor an der Mittellinie aufgereiht waren, direkt nach vorne. Toni Kroos täuscht den Pass nach hinten zu Kimmich an, dreht dann aber doch auf.
Kroos bekommt im Anschluss schnell Druck vom anlaufenden 8er der Franzosen. Die anderen beiden zentralen Mittelfeldspieler Frankreichs haben keinen Blick für die laufenden deutschen Nationalspieler. Havertz und Musiala sind die beiden, die sich nicht als Anspielstation anbieten sondern durch ihren Tiefenlauf die Verteidiger wegziehen und so einen Freiraum zwischen der französischen Abwehr- und Mittelfeldkette öffnen. Wirtz und Gündogan ziehen bei ihren Laufwegen in die Mitte, um den Pass von Kroos in diesen freigewordenen Raum zu empfangen. Die Abwehrspieler der Franzosen nehmen die Läufe von Havertz und Musiala auf und sichern so nur die Tiefe.
Wirtz kann den Ball ungestört kontrollieren und hat im Zentrum extrem viel Freiraum. Die beiden zentralen Mittelfeldspieler von Frankreich kommen erst jetzt ins Nachverteidigen und haben keinen Zugriff mehr auf den Ballbesitzenden. Die gesamte Viererkette ist mit zwei offensiven Spielern der deutschen gebunden. Sowohl Wirtz als auch Gündogan haben im Zentrum in der gegnerischen Hälfte keinen direkten Gegenspieler.
Florian Wirtz kann nun ungehindert auf den gegnerischen Strafraum zudribbeln und hat anschließend 4 Optionen: Zum einen den Pass auf die äußeren Laufwege der Offensivspieler (Option 1 und Option 3). Zum anderen der Steckball auf Musiala, der zentral einen Laufweg in den Rücken der Abwehrkette anbietet (Option 2). Die letzte Option (Option 4) ist der direkte Torabschluss, der dann auch zum Torerfolg geführt hat. Dies ist überhaupt erst möglich, da die beiden Mittelfeldspieler von Frankreich, wie bereits erwähnt, keinen Zugriff auf den Ballführenden haben.
Lazio Rom – Como Calcio
Am 20. Spieltag der Serie A empfing die Lazio aus Rom den Aufsteiger Como Calcio aus der Serie B. Als Tabellen 16. entschied Como den Münzwurf um den Anstoß für sich und hatte so direkt eine Chance, gefährlich nach vorne zu spielen. Mit Anbetracht der spielerischen Qualitäten von Lazio Rom ist das eine enorme Chance im Spiel direkt Akzente zu setzen. Die folgende Anstoßvariante hatte zwar kein Tor zur Folge, dennoch eine große Chance für Como.
Zur Ausgangsposition: Lazio agierte in weißen Trikots und startete aus einem 4-2-3-1 in der Grundformation gegen den Ball in einem 4-4-2. Como dagegen stellte sich asymmetrisch auf. Dabei führte der 10er den Anstoß aus. Die drei Offensivspieler von Como sind direkt an der Mittellinie positioniert. Hinter dem Mittelkreis hat sich einer der 6er sowie der Linksverteidiger aufgestellt. Der zweite 6er steht auf der Seite des Mittelkreises, auf der nur ein Offensivspieler ist. Die Ausführung des Anstoßes erfolgt mit einem Pass zum Linksverteidiger ins Zentrum.
Mit Ausführung des Anstoßes sprinten die beiden links aufgestellten Offensivspieler direkt nach vorne. Der Spieler, der den Pass gespielt hat, täuscht ebenfalls einen Lauf nach vorne an, bricht diesen aber wieder ab und bietet sich zwischen den beiden gegnerischen Stürmern als Anspielstation an. Dort wird der Ball dann auch reingespielt.
Dieser Pass wird anschließend direkt auf den hoch positionierten 6er abgelegt. Lazio bekommt direkt zum Beginn des Spiels keinen Zugriff auf die Ballführenden, da alles genau geplant ist und mit wenigen Kontakten gespielt wird.
Anschließend wird der Ball erneut mit dem ersten Kontakt gespielt. Ein hoher Chipball hinter die gegnerische Kette soll die gestarteten Offensivspieler finden. Geht beim Ablegen im Zentrum beispielweise durch einen technischen Fehler etwas schief, ist Como mit der Restverteidigung gut organisiert. Vielleicht wurde deshalb auch der Linksverteidiger in das Zentrum geschoben, um zusammen mit dem 6er die beiden Stürmer von Lazio direkt aufnehmen zu können.
Durch den langen Ball hinter die Kette konnten sie viele Spieler des Gegners überspielen und so auf letzter Linie ein 2 vs. 2 kreieren, bei dem es für die Verteidiger besonders schwer ist, da sie mit dem Gesicht zum eigenen Tor verteidigen müssen. Die Mittelfeldspieler und Außenverteidiger von Lazio haben keinen Zugriff mehr auf den Ballführenden. Der Angreifer von Como hat nun die Option den Ball auf den mitlaufenden Stürmer quer zu legen oder selbst den Torabschluss zu suchen. In dieser Situation führte ein technischer Fehler zum Verpuffen der Chance.
OSC Lille – PSG
Das letzte Beispiel für eine effektive Anstoßvariante liegt schon etwas zurück und fand am 3. Spieltag der Saison 22/23 in der Ligue 1 beim Topspiel zwischen OSC Lille und Paris Saint-Germain statt. Hier konnte Top-Torjäger Kylian Mbappe bereits nach wenigen Sekunden das erste seiner drei Tore in diesem Spiel erzielen. Wie es dazu kam, wird nun analysiert.
Ausgangssituation: Lille positioniert sich in einem 4-4-2 gegen den Ball bei gegnerischem Anstoß. Paris hat fünf Spieler an der Mittellinie positioniert. Anhand dieses Standbilds erkennt man gut, dass beide Spieler auf der linken Seite des Balls direkt im Sprint nach vorne gehen wollen, nachdem der Anstoß ausgeführt wurde. Im Zentrum befinden sich drei Spieler als Anspielstation für den Anstoß. Dahinter befinden sich noch die beiden Innenverteidiger.
Neymar, der den Anstoß ausgeführt hat, täuscht erneut einen Lauf nach vorne an um dann anschließend wieder umzukehren und den Ball zu empfangen zwischen den gegnerischen Stürmern. Mbappe setzt seinen Tiefenlauf weiter fort, genauso wie der breit positionierte Linksverteidiger von Paris.
Ähnlich wie im Spiel Lazio Rom gegen Como Calcio kommt der Ball mittels des Spiels über einen Dritten, hier Neymar, zu dem dritten zentralen Spieler, Messi. Dadurch, dass Mbappe nicht direkt im Vollsprint hinter die Kette geht, orientieren sich die Verteidiger zu ihm nach vorne, um bei einem möglichen Ball in den Fuß direkt am Mann sein zu können. Der Linksverteidiger von PSG ist extrem hoch positioniert und hat keinen direkten Gegenspieler sowie sehr viel freien Raum vor sich. Die Spieler auf der rechten Seite sind nicht ganz so hoch positioniert wie rechts und man kann schon klar erkennen, dass sich die Zielspieler auf der linken Seite befinden.
Messi kann nun mit dem ersten Kontakt entweder auf den hohen Linksverteidiger spielen (Option B) oder aber hinter die Kette auf Mbappe spielen (Option A). Jetzt setzt Mbappe zu seinem richtigen Sprint an und kann so die vorgeschobenen Verteidiger überrennen. Dabei befindet er sich nahe am Abseits, das jedoch vom ballfernen Außenverteidiger aufgehoben wird. Gegen gut organisierte Abwehrreihen, wie beispielsweise FC Barcelona unter Hansi Flick, kann das bei schlechterem Timing zu Problemen führen.
Nach dem Ball hinter die Kette haben die überspielten Spieler durch das hohe Tempo wieder wenig Chance auf einen Zugriff auf den Ballführenden. Mbappe hat nun die Option des direkten Torabschlusses (Option A) oder die „sicherere“ Variante, die des Querlegens (Option B).
Empfehlungen für Trainer
Trainer, die das taktische Potenzial von Anstößen voll ausschöpfen möchten, sollten gezielt daran arbeiten, ihre Mannschaft auf diese entscheidenden Momente vorzubereiten. Der erste Schritt besteht darin, eine klare Planung und Kommunikation sicherzustellen. Jede Anstoßvariante sollte ein definiertes Ziel verfolgen, sei es, sofort einen Angriff einzuleiten (Spiel über den Dritten im Zentrum für einen langen Ball hinter die Kette), den Gegner aus der Position zu ziehen oder gezielt Räume zu öffnen (Tiefenläufe von Musiala und Havertz). Damit dies gelingt, müssen die Spieler ihre Rollen und Laufwege genau kennen, um Fehler zu vermeiden. Außerdem müssen die technischen Fähigkeiten für die Variante vorhanden sein, um Ballverluste zu vermeiden. Dafür können Spieler auch außerhalb ihrer Position zum Anstoß aufgestellt werden, wie zum Beispiel der Linksverteidiger von Como. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Analyse des Gegners.
Wie positioniert sich die gegnerische Mannschaft bei Anstößen? Gibt es Schwachstellen, wie unaufmerksame Außenverteidiger oder ein zu hohes Mittelfeldpressing? Solche Erkenntnisse bieten die Grundlage, um Überraschungsmomente zu schaffen. Ebenso entscheidend ist das regelmäßige Üben von Präzision und Timing. Der Erfolg einer Anstoßvariante hängt maßgeblich davon ab, dass Pässe exakt gespielt und Laufwege perfekt aufeinander abgestimmt sind. Regelmäßiges Training solcher Situationen steigert nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Effizienz im Spiel. Flexibilität ist ein weiterer Schlüssel zum Erfolg.
Mannschaften sollten darauf vorbereitet sein, ihre Anstoßvariante spontan anzupassen, falls der Gegner frühzeitig darauf reagiert. Hierfür ist es wichtig, den Spielern alternative Optionen und Entscheidungsfreiheiten an die Hand zu geben, um starren Mustern vorzubeugen. Insbesondere im Amateur- und Jugendbereich sollten die Varianten einfach gehalten werden. Komplexe Laufwege oder schwierige Passkombinationen können überfordern, daher ist es besser, auf klare und leicht umsetzbare Aktionen zu setzen, die trotzdem effektiv sind. Schließlich spielt auch die Mentalität der Spieler eine entscheidende Rolle.
Ein erfolgreicher Anstoß erfordert Mut und Selbstbewusstsein, insbesondere wenn ein direkter Torabschluss angestrebt wird. Trainer sollten darauf hinarbeiten, dass ihre Spieler solche Momente mit Überzeugung angehen und keine Angst vor Fehlern haben. Mit der richtigen Vorbereitung, einer kreativen Herangehensweise und einer starken Mentalität können Anstoßvarianten selbst für Mannschaften ohne große individuelle Klasse zu einem echten Überraschungsmoment und einem wichtigen taktischen Mittel werden.
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Fazit
Die Beispiele von Wirtz, Mbappé und Como zeigen eindrucksvoll, welches Potenzial im oft unterschätzten Anstoß steckt. Mit der richtigen Mischung aus taktischer Planung, Präzision und Kreativität kann diese Spielsituation zu einem echten Überraschungsmoment werden. Dennoch wird der Anstoß in vielen Mannschaften nur selten gezielt trainiert, was eine verpasste Chance darstellt. Trainer, die ihren Teams durch clevere Varianten einen Vorteil verschaffen möchten, sollten den Anstoß als strategisches Werkzeug begreifen. Ob im Profi- oder Amateurbereich – der Schlüssel liegt darin, den Mut zu haben, neue Wege zu gehen und die eigene Mannschaft auf diese entscheidenden Momente vorzubereiten. Fußball lebt von Ideen, und der Anstoß ist ein perfekter Ort, um diese umzusetzen.
Autor: Marius Thomas / Redaktion: Goetz & Media | Sport