Aggressives Spiel – selbstverständlich (nicht)!
Anja Liebscher, Diplom-Sportwissenschaftlerin am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln
„Nürnberg ist wie wir ein Team, dass sich darüber definiert, ein unangenehmer Gegner zu sein“ (ZDFtext, 6. April 2013) – Der Mainzer Trainer Thomas Tuchel beschreibt mit seiner Aussage einen Teil dessen, was als der Prototyp einer Mannschaft bezeichnet wird. Bei diesem handelt es sich um die kognitive Repräsentation aller Merkmale, die die eigene Mannschaft aus Sicht der Spieler auszeichnen und sie von anderen Mannschaften unterscheiden. Man könnte sagen, dass der Prototyp das geistige Abbild dessen darstellt, wer die eigene Mannschaft ist.
Ein unangenehmer Gegner zu sein ist also ein mögliches Charakteristikum einer Fußballmannschaft. Ob genau dieses Charakteristikum oder doch ein anderes handlungsentscheidend wird, hängt von der jeweiligen Situation und auch von der Mannschaft ab, mit der sich die Spieler vergleichen. Bei solchen Vergleichen versucht der Mensch immer den eigenen Selbstwert zu schützen, weshalb genau diejenigen Charakteristika betont werden, die die eigene Mannschaft im Vergleich zur anderen Mannschaft positiv dastehen lassen. Hätte ein Spiel gegen eine andere Mannschaft als den 1. FC Nürnberg angestanden, hätte es daher auch gut sein können, dass z.B. der Teamgeist oder das spielerische Können in den Vordergrund gerückt wären. Beides sind Charakteristika, die Fußballspieler und -spielerinnen in einer Studie der Deutschen Sporthochschule Köln (Zepp, Kleinert, & Liebscher, accepted) angegeben haben, um ihre eigene Mannschaft zu beschreiben. Sie können also ebenso Teil des Prototyps einer Mannschaft sein wie die zu Beginn erwähnte Überzeugung ein unangenehmer Gegner zu sein.
Mit den verschiedenen Charakteristiken sind jeweils Überzeugungen, Einstellungen, Emotionen und Verhaltensweisen verbunden, die alle im Prototyp gespeichert sind. Je nachdem, welche Charakteristika in einer bestimmten Situation für die Mannschaft relevant sind, werden gleichzeitig die damit verbundenen Überzeugungen, Einstellungen, Emotionen und Verhaltensweisen relevant. Dies hat letztlich Einfluss darauf, wie sich die Spieler der Mannschaft verhalten, und das nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz; immer dann, wenn sie als Mitglied ihrer Mannschaft denken, fühlen und/oder handeln.
Auch aggressives Verhalten (auf dem Spielfeld) kann im Prototyp einer Mannschaft vorgesehen sein; ebenso wie herausragend faires Verhalten. Sicherlich kennt jeder von Ihnen Mannschaften, deren Spielweise Sie als aggressiv, mitunter sogar als unfair bezeichnen würden. Vielleicht sind Sie auch selbst Spieler oder Trainer einer Mannschaft, die sich darüber definiert, aggressiv zu spielen. Wie sich dieses Charakteristikum bei der einzelnen Mannschaft ausdifferenziert, kann unterschiedlich sein. Es kann im Sinne des Prototyps sein, sich mit regelgerechtem, intensivem Körpereinsatz durchzusetzen und dabei Schmerz und eine mögliche Verletzung des Gegners in Kauf zu nehmen. Es ist auch möglich, dass sich die Spieler als eine Mannschaft sehen, die Schmerz und Verletzung gegnerischer Spieler als Mittel zum Zweck, z.B. zur Torvereitelung, einsetzt. Zuletzt kann es auch charakteristisch für eine Mannschaft sein, sich in solcher Weise aggressiv zu verhalten, dass der Gegner in erster Linie Schmerz empfindet oder auch verletzt wird.
Für einen Trainer kann es enorm gewinnbringend sein, den Prototyp seiner Mannschaft zu kennen. Weiß er nämlich, worüber sie sich definiert, wie sie sich selbst sieht, hat er die Möglichkeit das Verhalten seiner Spieler besser zu verstehen. Das neu gewonnene Verständnis kann ihm dabei helfen, Veränderungen einzuleiten. Will er das Verhalten seiner Spieler langfristig beeinflussen, kann er dies tun, indem er den Mannschaftsprototyp beeinflusst. Am besten tut er dies mit der Unterstützung eines oder mehrerer Schlüsselspieler, die vom Rest der Mannschaft akzeptiert sind.
Auch vor einem anderen Hintergrund ist es von Vorteil, sich mit dem Prototyp der Mannschaft auseinanderzusetzen. Eine bewusste Thematisierung dessen, was die eigene Mannschaft definiert, kann zum Beispiel auch dabei helfen, Neuzugängen den Einstieg zu erleichtern; sie können sich in kurzer Zeit ein Bild davon machen, was für diese Mannschaft typisch ist und wie sie sich demzufolge verhalten müssen, um akzeptiert zu werden.
Literatur
Zepp, C., Kleinert, J. & Liebscher, A. (accepted). Inhalte und Strukturen prototypischer Merkmale in Fußballmannschaften. Sportwissenschaft. doi:10.1007/s12662-013-0305-9
Kurzvita
Name: Anja Liebscher
Geboren: 11.06.1982
Adresse: Deutsche Sporthochschule Köln
Am Sportpark Müngersdorf 6, 50933 Köln
Tel.: 0221/4982-5740
E-Mail: Liebscher@dshs-koeln.de
Berufliche Tätigkeit: Lehrkraft für besondere Aufgaben am Psychologischen Institut der DSHS Köln
Abschlüsse: – Diplom-Sportwissenschaft (2007)
– Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Grund-, Haupt- und
Realschulen mit dem Schwerpunkt Grundschule (2010)