Praktische Erfahrung ist nicht ausreichend für einen Fußballtrainer
Der Sportwissenschaftler Roland Loy hat vor ein paar Jahren ein Buch über Fußballirrtümer veröffentlicht. In diesem Buch beschreibt er sehr eindrücklich, wie viele der Fußballweisheiten in Wahrheit nicht zutreffen. Loy hat für sein Buch damals zahlreiche Fußballspiele untersucht und ist zum Teil zu ganz anderen Schlüssen gekommen als viele erfahrene Fußballtrainer. Beispielsweise konnte er nachweisen, dass die Mannschaft, die die meisten Zweikämpfe gewinnt, meist als Verlierer vom Platz geht. Mindestens genauso interessant ist aber, dass der Sportwissenschaftler ganz dezidiert beschreibt, wie wenig wir eigentlich über den Fußball wissen. Die meisten Zusammenhänge sind niemals wissenschaftlich untersucht worden. Beispielsweise weiß niemand, ob das Spiel über die Außenbahnen besser ist als das Spiel durch die Mitte.
Für einen Fußballtrainer sind die Ergebnisse von Roland Loy vor allem deswegen interessant, weil sie ein Nachdenken über vermeintlich feststehende Wahrheiten in Gang setzen können. Das beginnt schon bei der Trainerausbildung. Im Profifußball, aber auch in den Amateurligen ist es durchaus üblich zu glauben, dass ein erfahrener Profi ganz automatisch auch ein guter Trainer sein kann. Und tatsächlich gibt es auch diverse Beispiele für Spieler, die eine herausragende Trainerkarriere gemacht haben. Insbesondere in der älteren Trainergeneration gibt es nur wenige Protagonisten, die selbst nicht irgendwann einmal in der höchsten Liga gespielt haben. Aber das wandelt sich und Christoph Daum, Thomas Tuchel und Jürgen Klopp haben längst bewiesen, dass auch ohne herausragendes Talent als Spieler eine erstklassige Trainerkarriere möglich ist.
Warum theoretisches Wissen für Fußballtrainer so wichtig ist
Fußball ist ein extrem komplexes Spiel. Für Spieltheoretiker ist Fußball viel zu komplex, so dass die Spieltheorie immer nur Aussagen machen kann für einzelne Situationen. Übrigens wäre es längst an der Zeit, dass sich einmal Spieltheoretiker mit dem Fußball ausführlich beschäftigen würden. Bisher gibt es nur vereinzelte Veröffentlichung zu diesem Thema, die aber längst nicht ausreichen, um ein umfassendes Bild zu erhalten. Roland Loy hat keine spieltheoretische Betrachtung unternommen, aber er hat doch anhand zahlreicher Beispiele und mit Hilfe statistischer Analysen aufgezeigt, wie wertvoll präzises Wissen über bestimmte Situationen im Fußball sein kann. Meine Lieblingsthema an dieser Stelle sind die Freistöße, denn obwohl alle Statistiken zeigen, dass es sich nicht lohnt, Freistöße direkt auf das Tor zu schießen, gibt es keine einzige Spitzenmannschaft, die konsequent Freistoßtricks anwendet, um eine bessere Erfolgsquote zu erzielen. Irgendwann wird ein junger Trainer kommen, der mit Freistoßtricks die Profiwelt in Angst und Schrecken versetzen wird.
Aber zurück zum Thema: In allen Bereichen des Fußballtrainings ist theoretisches Wissen erforderlich. Das gilt ganz besonders für die taktische Schulung der Spieler. Aber ein Trainer muss sich beispielsweise auch mit der Wirkung von Konditionstraining auf den menschlichen Organismus auskennen. Es gibt viele wertvolle Details, die nicht durch die eigene praktische Erfahrungen oder die Beobachtung erfasst werden können. Aber glücklicherweise gibt es zu diesem Zweck Bücher, Fachportale im Web, Trainerkurse und viele andere Möglichkeiten, in die theoretischen Tiefen des Fußballsports einzudringen. Das ist allerdings ziemlich mühsam und da die meisten Fußballtrainer eher Praktiker denn Theoretiker sind, scheuen viele die theoretische Schulung. Das ist aber ein großer Fehler, denn die Theorie hat den großartigen Vorteil, dass sie den Trainer weit über die Praxis hinaus in den Fußball einführt. Wie möchten Sie beispielsweise ein neues taktisches System einführen, wenn Sie nicht einmal theoretisch wissen, wie das System funktioniert? Wenn Sie immer nur Systeme spielen lassen, die Sie als Spieler kennen gelernt haben, hinken Sie ganz automatisch mindestens ein Jahrzehnt der aktuellen Entwicklung hinterher. Nicht zufällig gibt es gerade in unteren Amateurklassen immer noch sehr viele Mannschaften, die mit Ausputzer und Manndeckern spielen. Wenn Sie als Trainer vorankommen möchten, müssen Sie auch und vor allem theoretisches Wissen erfassen können, damit Sie eine stabile Basis für die Praxis haben.
Eine umfassende Theorie des Fußballs
Es wird niemals eine Theorie geben, die den Fußball komplett erklärt. Selbst wenn es eine Theorie gäbe, die auch nur halbwegs diesen Anspruch erfüllen würde, könnte man damit immer noch keine Ergebnisse vorhersagen. Der menschliche Faktor macht das Spiel interessant und unberechenbar. Aber es gibt doch zahlreiche Gesetzmäßigkeiten, die heute fester Bestandteil der Trainerausbildung sind. Wenn sich ein Spieler einbildet, er könne auf all diese Theorie verzichten, wird er niemals ein großer Trainer werden. Vielleicht ging das früher einmal, als der Fußballsport noch nicht ganz so komplex war.
Heute wenden Spitzentrainer wie Mourinho, Klopp, Heynckes oder Guardiola derart komplexe Strategien an, dass ein Trainer, der allein auf Psychologie und eine gute Einstellung vertraut, früher oder später scheitern muss. Nicht zuletzt werden Sie erstaunt sein, wie Sie mit dem Zuwachs an theoretischem Wissen das Fußballspiel viel besser verstehen. Wenn Sie beispielsweise ein modernes taktisches System in allen Details analysieren können, sind Sie auch dazu in der Lage, selbstständig und ohne Blick in ein Lehrbuch eine Gegentaktik zu entwerfen. Und das ist schließlich eine der Hauptaufgaben eines Trainers.